03.05.2020 09:24

Spiel meines Lebens


Mit Schwager Reimer: Über Bayern ins Weserbergland

Fockenbrock und Knoche lotsen Illge zu Preußen Hameln / Teil 3 von 3
BSG Chemie Leipzig 1989 1990 Frank Illge
Das  Mannschaftsfoto von Chemie Leipzig aus der Saison  1989/90. Aus dem privaten Archiv von Illge.
Von Oliver Steffan

Chemie hält somit die Oberliga, muss am Ende der Saison 1984/85 dann jedoch als Tabellen-13. den Weg in die Zweitklassigkeit antreten. „Lok Leipzig hat uns unseren Goalgetter Hans-Jörg Leitzke dann noch weggeschnappt, er wurde nach unserem Abstieg 1985 nach Probstheida delegiert und stand 1987 im legendären Europa-Pokal-Finale gegen Ajax Amsterdam, dass diese durch einen van Basten-Kopfball-Treffer mit 1:0 gewannen. Bis 1989 bieten die Chemiker in der zweiten Liga nur Schmalkost, doch vor der Saison 1989/90 bescheinigen Experten der Mannschaft um den langjährigen Spielführer Illge beste Chancen, um die Rückkehr in die oberste Spielklasse schaffen zu können. Ab Herbst 1989 rückt der Fußball in der DDR dann in den Hintergrund. Auf gewaltigen Demonstrationen in Leipzig und anderen Großstädten fordern die DDR-Bürger politische Reformen und Reisefreiheit. Im November fällt die Grenze zur Bundesrepublik, so dass Millionen DDR-Bürger die neue Freiheit zu Reisen in den Westen nutzen. Sportlich kann sich Chemie Leipzig nach schwacher Hinrunde zwar in der zweiten Halbserie noch auf den zweiten Tabellenplatz verbessern, doch der errungene zweite Platz ist ohne Wert. Die Fußballverbände der BRD und der DDR beschließen, in der Saison 1990/91 die Qualifikation für eine gesamtdeutsche erste und zweite Bundesliga auszuspielen. Zweitliga-Meister Chemie Böhlen ist genauso chancenlos wie der Zweite, die BSG Chemie Leipzig. Am 31. Mai 1990 kommt es zur Umbenennung in FC Grün-Weiß Leipzig 1990 e.V., damit endet die 40-jährige Tradition der BSG Chemie.

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Portraitfoto TuS WE Luegde Frank Illge
Frank Illge wurde mit dem TuS WE Lügde Kreisliga-Meister. Aus dem privaten Archiv von Illge.
„Da sich in Böhlen die Geldgeber, das Chemie-Kombinat Otto Grotewohl, zurückziehen, beschließen die Vorstände der beiden grün-weißen Vereine, aus Böhlen und Leipzig, sich zusammenzuschließen. Am 01.08.1990 fusionieren beide Vereine zum FC Sachsen Leipzig, der den Oberliga-Startplatz übernimmt. Und dann mussten wir natürlich einen “Wessi-Trainer“ verpflichten, das gehörte zum guten Ton damals. Die Ost-Trainer und deren Methoden galten urplötzlich als verstaubt und überholt“, berichtet Frank Illge durchaus mit einer gewissen Portion Bitterkeit. „Trainer wurde mit William “Jimmy“ Hartwig, der ein Jahr zuvor in Augsburg seine Trainerlaufbahn einschlug, ein ehemaliger Meister-Spieler des Hamburger SV. Sprüche hatte der gut drauf und ich habe mich auch nicht gewundert, dass er Jahre später ins `Dschungelcamp` einzog. Ich funkte mit Hartwig nicht auf einer Welle und habe bis zur Halbserie auch nur gut eine Handvoll Spiele absolviert. Die Saison 1990/91 wurde dann auch überschattet von mehreren Skandalen und einer riesigen Tragödie. Sportlich haben wir zunächst ganz gut mitgemischt, im Herbst lagen wir sogar auf einem Bundesliga-Platz. Im Spiel gegen den FC Carl Zeiss Jena kam es dann aber zu einem Spielabbruch, als Zuschauer das Spielfeld stürmten. Der Schiedsrichter verwehrte uns nach mehreren umstrittenen Entscheidungen in der Schlussphase den Ausgleichstreffer.


Frank Illge wurde mit dem TuS WE Lügde Kreisliga-Meister. Aus dem privaten Archiv von Illge.
Zu der Zeit war das Thema “Gewaltbereitschaft in den Stadien“ allgegenwärtig. Vor dem Spiel gegen den Berliner FC Dynamo am 3. November 1990 randalierten zahlreiche Berliner Hooligans zunächst in unserer Innenstadt. Vor den Toren des Leutzscher Alfred-Kunze-Sportparks wurde der Berliner Fußball-Fan Mike Polley an jenem Nachmittag erschossen. Hunderte Berliner Fans, darunter auch zahlreiche gewaltbereite Hooligans, hatten zuvor versucht, ins Stadion zu gelangen, um das Spiel des FC Berlin bei uns, dem FC Sachsen Leipzig, sehen zu können. Sie wurden von der Polizei mit Knüppeln und Tränengas zurückgedrängt. In der Nähe des Leutzscher Bahnhofs flogen dann Steine auf die Polizei, die daraufhin von der Schusswaffe Gebrauch machte. In Notwehr wurde der 18-Jährige Mike Polley von der Polizei erschossen. Der 03. November 1990 gilt noch heute als schwärzester Tag des ostdeutschen Fußballs“, ist Frank Illge noch heute fassungslos.
„Trainer Hartwig, der die Gastgeber nach einem Spiel in Cottbus im Fernsehen beleidigt, wurde daraufhin entlassen. Ich hatte mich derweil schon anderweitig orientiert, es musste ja irgendwie weitergehen. Für den Profi-Fußball war ich mit 30 Jahren nunmehr zu alt. Hinzu kam, dass mein abgeschlossenes Sport-Studium, ich war ausgebildeter Diplom-Sportlehrer, nach der Wende so gut wie nichts wert war. Selbstverständlich hatte ich an der Deutschen Hochschule für Körperkultur (DHfK), der Leiziger Sporthochschule, auch meinen Fußball-Lehrer gemacht. Von der ganzen DDR-Trainerschaft hat der DFB gerade mal bei zwei Händen voll Übungsleitern die Fußball-Lehrer-Lizenz anerkannt. Wenn man mehr als zehn Jahre in der Oberliga tätig war, so wie Eduard Geyer oder Hans Meyer, dann wurde der Trainer-Schein akzeptiert, alle anderen Trainer wurden als A-Lizenz-Trainer abqualifiziert.
In Barsinghausen konnte man zur gleichen Zeit binnen vier Wochen die A-Lizenz erwerben...

Ich hatte auch kurzzeitig überlegt, in Köln an der Sporthochschule, meinen Fußball-Trainer West zu erlangen, doch 25.000 bis 30.000 DM Lehrgangsgebühren etc. haben mich abgeschreckt. Fünf Jahre hatte ich studiert und der ganze Aufwand wurde nicht belohnt“, ist Frank heute noch ziemlich sauer über die ungerechte damalige Behandlung. „Eine weitere Option wäre gewesen, in den Lehrerberuf einzusteigen, doch da hätte ich noch ein zweites Fach gebraucht, neben Sport, und hätte sechs bis acht Semester studieren müssen – das ging alles nicht, wie hätte das bezahlt werden sollen?“ wird Frank Illge vor schwierige Fragen und Überlegungen, die Zukunft, betreffend gestellt. Mit seinem Schwager Michael Reimer, mit dem er in den Jahren in Leipzig gespielt hat, geht es quer durch die Republik: „Wir haben geschaut, ob es einen Verein in der dritten oder vierten Liga gibt, der uns eine sportliche wie auch berufliche Perspektive bieten kann. Vom Süden der Republik bis hoch zur Nordsee sind wir unterwegs gewesen.“ Der erste Weg führt die beiden “Chemiker“ nach Bayern. In Freising, wo im Erdinger Moos gerade der neue Flughafen gebaut wird, hätten die beiden Kicker jenseits des besten Fußball-Alters zwar sofort Fußball spielen können, doch mit einer Arbeitsstelle lassen die Bayern auf sich warten. Grund genug, ganz schnell neue Möglichkeiten auszuloten.

Der spaetere Preuße Michael Reimer in Aktion
Der spätere Preuße Michael Reimer in Aktion. Aus dem privaten Archiv von Illge.
Im Weserbergland, Frank Illge hatte mit dem FC Sachsen schon mal in Hildesheim gespielt und auch einen Kurztrip nach Hameln unternommen, lohnt es sich genauer zu schauen. Zu Helmut Dreyer, dem rührigen Manager des MTSV Aerzen, hat er noch Kontakt: „Bei ihm kaufte ich mein erstes West-Auto und wurde nicht über den Tisch gezogen“, weiß Frank noch, wie es im Weserbergland losging. Der damalige Preußen-Vorsitzende Heinrich Fockenbrock und Manager Siegfried Knoche fädeln den doppelten „Ost-West-Transfer“ aus der DDR-Liga zum westdeutschen Viertligisten SpVgg Preußen Hameln 07 im Frühjahr 1991 ein. Der Wechsel ins Preußen-Trikot ist für das sächsische Familien-Duo Illge/Reimer nicht unbedingt entscheidend. Den beiden Ost-Kickern hat das Vorstandsduo der Preußen viel mehr zu bieten. Sie öffnen ihnen die Tür zum BHW: „So konnten wir beruflich noch einmal völlig neu durchstarten und absolvierten unsere Ausbildung zum Bankkaufmann. Es war schon etwas komisch, schließlich war ich zweifacher Familienvater und bereits 31 Jahre alt, als ich mit 16-Jährigen Burschen die Schulbank drückte“, denkt Frank mit Respekt an die damalige Situation zurück.

Frank Illge Kreisliga Meister mit TuS Luegde Saison
Frank Illge beim TuS WE Lügde. Aus dem privaten Archiv von Illge.
In den ersten Monaten pendelt Frank Illge zwischen Hameln und Leipzig, Ehefrau Kathrin und die Jungs Patrick und Robin wohnen anfangs weiterhin in Leipzig. „Patrick ist dann im Sommer 1991 in Aerzen eingeschult worden, da ist dann die Familienzusammenführung erfolgt und alles war gut.“ Sportlich hält Illge den Preußen, erst als Spieler, danach als Trainer, lange Jahre die Treue. Der MTSV Aerzen, der TuS Sonneborn und dann der TuS WE Lügde sind die nächsten Trainerstationen des vom maschinenbauenden Fußball-Lehrer zum Bankkaufmann umgeschulten Ex-Profis. Mit den Aerzenern muss Illge in der Saison 2003/04, nun als Trainer, erneut einen Fußball-Krimi durchstehen – und wieder mit dem besseren Ende. Auf der Sportanlage in Ronnenberg kehren die Illge-Schützlinge aus dem Hummetal nach langen Jahren des Wartens und des Zauderns in der Kreisklasse und der Kreisliga endlich wieder in den Bezirk zurück. Mit 4:3 nach Verlängerung ringen die MTSV-er den TV Jahn Leveste nieder und wieder wird ausgiebig gefeiert … Auch mit dem TuS WE Lügde heißt es Jahre später nach der Kreisliga-Meisterschaft: Fertigmachen zum Jubeln!
Die Kontakte in seine Heimatstadt Leipzig, wo er das Chemie-Trikot immer gern und stolz übergestreift hat, sind auch nach 30 Jahren nicht abgerissen: „Mit unserer “Nicht-Abstiegs-Truppe“ oder wie es in Leipzig heißt, den “zweiten Helden neben der 64-er-Meister-Mannschaft“, haben wir uns früher alle fünf Jahre getroffen, seit einigen Jahren alle zwei Jahre.

Jährlich trifft sich die große Chemiker-Familie, alle Spieler, die, unabhängig vom Alter, das grün-weiße Trikot getragen haben. Beim letzten Treffen war ich dabei und es waren knapp 50 Ehemalige anwesend“, schwelgt Frank Illge versonnen in Erinnerungen. Und immer wieder wird dann natürlich die Geschichte der “Klasse von 1984“ und von den Abstiegskampf-Spielen ihres Lebens Ende Mai 1984 gegen Union Berlin zum Besten gegeben …
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