01.05.2020 09:21

Spiel meines Lebens


„Wir hätten 100.000 Karten verkaufen können“

Abstiegsdrama 1984 – und Chemie-Captain Illge mittendrin / Teil 2 von 3
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Von Oliver Steffan

BSG Chemie Leipzig Saison 1983 1984 Frank Illge
Tausende von Chemie-Fans in der Oberliga-Saison 1983/84 Aus dem privaten Archiv von Illge.
In der obersten DDR-Liga hat Chemie in der Saison 1983/84 zunächst Anpassungsprobleme. In der Hinrunde läuft es nicht böse, es läuft superböse. Nach den 13 Spielen, da es nur 14 Vereine in der Oberliga gibt, stehen ganze fünf Punkte auf dem Chemie-Konto. Der Abstand zum rettenden zwölften Platz scheint schon abgerissen, die Hoffnung auf den Klassenerhalt sind nicht besonders groß. Glücklicherweise können sich aber die Kontrahenten vom Halleschen FC Chemie und Union Berlin in den ersten Spielen der Rückrunde nicht entscheidend absetzen. Im Gegenteil: Chemie steigert sich nach dem Winter, in Dresden geht es mit einem beachtlichen 0:0 schon ordentlich los, das Team von Gerd Struppert bezwingt sensationell den Spitzenclub vom FC Carl Zeiss Jena (Illge: „Da habe ich eines meiner wenigen Tore, aber für mich wohl das Tor des Jahres geschossen, und das mit meinem schwächeren linken Fuß, prinzipiell lag mir die Torvorbereitung wesentlich besser.“), fährt auch gegen Halle und Aue Siege ein und steht am vorletzten Spieltag dicht vorm Klassenerhalt. Doch dann kommt es in Magdeburg zum “schwarzen Chemie-Samstag“. Vor der Begegnung beim Europapokal-Sieger von 1974 weist Chemie Leipzig 14:34 Punkte und 21:42 Tore auf, Union auf dem ersten Abstiegsplatz kommt auf 12:36 Punkte und 25:53 Toren. Zwar verlieren die Unioner daheim an der „Alten Försterei“ mit 0:2 gegen Vorwärts Frankfurt/Oder, aber die Leipziger kommen in Magdeburg beim 0:5 richtig unter die Räder und verzocken so ihren komfortablen Vorsprung gegenüber Union im Torverhältnis - satte sieben Tore zuvor, nun gerade mal noch vier Tore im Plus – und am letzten Spieltag reist Union in den Georg-Schwarz-Sportpark nach Leipzig...

Frank Illge Chemie Leipzig 1985 aus `Fußballwoche` - dem `Kicker`  der DDR
Frank Illge bei Chemie Leipzig 1985 aus der Fußballwoche - dem Kicker der DDR. Aus dem privaten Archiv von Illge.
So kommt es zum spannendsten Abstiegskampf in der Geschichte der DDR-Oberliga. Chemie kann selbst mit einer knappen Niederlage zu Hause gegen Union den Klassenerhalt perfekt machen. „Uns war klar, dass wir mit einem 0:1 den Klassenerhalt sicher haben, ein 0:2 hätte zwei Abstiegsduelle, erneut gegen Union bedeutet, bei einem 0:3 wären wir sogar direkt abgestiegen – eine verrückte Situation“, so Frank Illge kopfschüttelnd. Die Fans in Leipzig sind schon komplett auf Party eingestellt, siegessicher und in Vorfreude. Doch die Nerven spielen nicht mit, Chemie beginnt übernervös. „Das Stadion war natürlich ausverkauft, es ging richtig zur Sache. Wir kamen nicht ins Spiel und die Spielszene in der 9. Minute am Samstag, den 19. Mai 1984 ist mir noch Jahre später immer wieder durch den Kopf gegangen. Ich bekam den Ball seitlich vor dem Sechzehner zugespielt, stand mit dem Blick Richtung eigenes Tor und habe Lutz Hovest in meinem Rücken nicht bemerkt. Er spitzelte mir den Ball weg, flankte und in der Mitte nickte Olaf Seier das Leder zum frühen 1:0 für die “Eisernen“ ein. Ich hätte mir am liebsten einen riesengroßen Spaten gewünscht, um mich an Ort und Stelle eingraben zu können. So eine Scheiße, das große Spiel und ich mache einen Riesenbock und sorge für die Gäste-Führung – unglaublich. Wir wurden immer nervöser und retteten uns in die Halbzeit. Als Seier in der 57. Minute auch noch das 0:2 machte, ging uns komplett die Düse. Union hatte sogar noch Chancen zum 0:3, das wäre das Ende gewesen. Nach 90 Minuten schlichen wir vom Platz, waren natürlich total enttäuscht, dass wir unseren treuen und uns ununterbrochen anfeuernden Fans nicht die Rettung geschenkt hatten.“

Jubel nach dem Ausgleich dürch Leitzke in der `Alten Försterei` in Berlin
Jubel nach dem Ausgleich durch Leitzke in der `Alten Försterei` in Berlin..
Das heißt: Union: 14:38 Punkte und 21:49 Tore, Chemie: 14:38 Punkte und 27:55 Tore.
Nun sieht es das Reglement vor, dass bei Punkt- und Torgleichheit nicht die mehr geschossenen Tore zählen, sondern erstmals in der Geschichte der DDR-Oberliga nun zwei Entscheidungsspiele den Abstieg entscheiden müssen. Am 23. Mai 1984 kommt es in Berlin zum ersten Duell, es heißt wieder Union gegen Chemie. Die „Alte Försterei“ platzt aus allen Nähten, die 23.000 Zuschauer geben alles. Die berüchtigten, heißblütigen Union-Fans bereiten den Gästen aus Leipzig mit Dauer-Gesängen einen unvergesslichen Abend. Ein Eigentor von Andreas Roth nach 31 Minuten zur 1:0-Führung der „Eisernen“ lässt die Berliner Fans fast durchdrehen, Union drückt, doch zur Pause bleibt es bei der knappen Führung. In der zweiten Hälfte erhöhen die Hauptstädter die Schlagzahl, Chemie wackelt und hat Glück, dass nicht das 0:2 fällt. Doch in der 74. Minute startet Chemie-Kapitän Frank Illge einen Solo-Lauf, lässt einen Unioner aussteigen und steckt den Ball durch die Gasse nach halbrechts. Die Flanke von Michael Breitkopf verwandelt Torjäger Hans-Jörg Leitzke per Kopf zum viel umjubelten Ausgleich - 1:1. So sollte es auch nach 90 Minuten stehen.
„Das 1:1 war natürlich unser Wunschergebnis und Gold wert. Zudem war ich heilfroh, meinen fauxpas vom Samstag wiedergutgemacht zu haben.

Vier Tage später, am 26. Mai1984 war bei uns richtig Alarm. Wir hätten, ungelogen, 100.000 Tickets zum Rückspiel gegen Union verkaufen können. Die hart gesottensten Fans saßen im “Leutzscher Holz“, das Stadion liegt direkt am Waldrand, rings um die Arena in den Bäumen, einige versuchten aufs Stadiondach zu gelangen, um von dort die Begegnung zu verfolgen. Man muss sich auch noch vorstellen, dass die Zuschauer bei uns, ähnlich wie in den englischen Stadien, direkt am Spielfeldrand standen und von Haus aus schon immer eine riesige Stimmung herrschte. Es war wirklich die Hölle los. Das, was gegen Union ablief, war einmalig in meiner Fußballer-Laufbahn. Es war so laut, dass wir uns auf dem Spielfeld gar nicht richtig verständigen konnten, wir hörten ganz einfach nichts. Selbst wenn der Schiri pfiff, ging die Partie häufig für Sekunden weiter, weil niemand etwas mitbekam“, ist Frank noch heute angetan von den Bedingungen rund um das entscheidende Spiel im Leipziger Stadtteil Leutzsch.
Frank Illge und Matthias Weiß nach dem großen Spiel gegen Union
Frank Illge und Matthias Weiß feiern nach dem großen Spiel gegen Union. Aus dem privaten Archiv von Illge.


Doch das Spiel beginnt mit einem Schock. Peter Riedtke schießt Union im Georg-Schwarz-Sportpark nach 19 Minuten in Front. Auch im dritten Spiel binnen acht Tagen geraten die Chemiker in Rückstand. Die Leipziger schütteln sich aber nur kurz und wieder ist es Illge, der seine Kameraden zurück in die Spur bringt. Aus dem Mittelfeld kommend, läuft der Mannschaftsführer in der 30. Minute auf die Union-Abwehr zu, reißt die Deckung auf, will von halblinks selbst schon schießen, als ihm der besser postierte Matthias Weiß die Entscheidung abnimmt und den Ball per Direktschuss in die lange rechte Ecke zum 1:1 versenkt. Chemie, gerade gut dabei, legt nach. Wie schon in Berlin ist es Hans-Jörg Leitzke vorbehalten, zum 2:1 zu netzen, gedankenschnell trifft er in der 38. Minute über Union-Keeper Jörn Dahms hinweg zur Führung.


Party nach dem Klasssenerhalt Frank Illge
Party nach dem geschafften Klassenerhalt. Aus dem privaten Archiv von Illge.
„In den zweiten 45 Minuten machte Union Druck ohne Ende, aber wir standen echt gut“, erzählt Frank Illge, „das vermeintliche 3:1 für uns nach einem Konter wurde genauso zurückgepfiffen wie der Ausgleich zum 2:2. Taktische Vorgaben gab es nicht mehr, wir droschen die Kugel zum Schluss nur noch übers Stadiondach. Doch als Schiri Peschel nach 90 Minuten dann endlich abpfiff, brachen alle Dämme. In Sekundenbruchteilen überwanden unsere Fans die gut zwei Meter hohen Gitter und hunderte “Positiv-Durchdreher“ stürmten ruckfix das Feld. Ich kam nach einer Stunde man gerade in Unterhose in die Kabine, die Klamotten wurden uns vom Leib gerissen – unvorstellbar! In allen drei Spielen gegen Union hatte ich eine Gänsehaut, die ich bisweilen heute noch bekomme, wenn ich an die Partie von damals zurückdenke. Die anschließende Feier ging richtig ab, aber das war ja auch nur verständlich...“ muss “Fränkie“ nicht extra aus dem Nähkästchen plaudern.

Zweites Entscheidungsspiel um den Abstieg Saison 1983/84


DDR-Oberliga

BSG Chemie Leipzig – Union Berlin 2:1 (2:1).

Datum: 26. Mai 1984, 15.00 Uhr

BSG Chemie Leipzig: Jörg Saumsiegel - Andreas Roth - Stephan Fritzsche - Joachim Fritzsche - Olaf Werner - Matthias Weiß - Jörg Stieglitz - Michael Reimer - Frank Illge - Hans-Jörg Leitzke - Michael Breitkopf (86. Min. Michael Geßner)
Trainer: Gerd Struppert

Union Berlin: Jörn Dahms - Waldemar Ksienzyk - Dirk Koenen - Peter Wirth (75. Min. Steffen Borkowski) - Olaf Seier - Peter Riedtke - Lutz Hendel - Lutz Hovest (75. Min. Ingo Kimmritz) - Heiner Thomas - Frank Melzer - Uwe Borchardt
Trainer: Karl-Heinz Burwieck

Stadion: Georg-Schwarz-Sportpark
Zuschauer: 23.000
Schiedsrichter: Klaus Peschel (Dresden)
Gelbe Karten: Michael Reimer - Waldemar Ksienzyk, Peter Wirth, Olaf Seier, Heiner Thomas
Tore: 0:1 Peter Riedtke (19. Min.), 1:1 Matthias Weiß (30. Min.), 2:1 Hans-Jörg Leitzke (38. Min.).

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