29.04.2020 09:20

Spiel meines Lebens


Die lebende Legende aus Leipzig-Leutzsch

Frank Illge schreibt 1984 als Chemie-Kapitän Fußball-Geschichte / Teil 1 von 3
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Chemie Leipzig Saison 1979 1980 Frank Illge
Chemie Leipzig aus der Saison 1979/80. Frank Illge mittlere Reihe zweiter von links. Aus dem privaten Archiv von Illge.
Von Oliver Steffan

„Ich war ernsthaft am Überlegen, ob ich über meine Erlebnisse und mein Leben ein Buch schreibe“, bekennt Frank Illge zum Ende des langen Gesprächs rund um sein „Spiel des Lebens“. Und das ist sehr gut nachvollziehbar, wenn man die Vielzahl der unglaublichen Ereignisse des einstigen Leipziger Fußball-Stars zusammenfasst. Das, was der nunmehr 59-jährige „Ex-Staats-Amateur“ zu berichten hat, gehört zu einem ganz besonderen sporthistorischen Kapitel des deutschen Fußballs. Der langjährige Kapitän des ehemaligen DDR-Oberligisten BSG Chemie Leipzig, zählt in den 80er Jahren zu den herausragenden Mittelfeldspielern im Osten. Heute kämpft die BSG im Schatten von „RasenBallsport“ (RB) Leipzig in der Regionalliga ums sportliche Überleben. Bevor die Mauer 1989 fällt, mischen die Chemiker in der höchsten Spielklasse der DDR ordentlich mit ...

„Wenn man verstehen will, was Chemie Leipzig für die Fußball-Freunde in Sachsen bedeutet, so müssen wir 57 Jahre zurückspringen“, erklärt Frank Illge. „1963 erfolgen im Leipziger Vereinswesen Umstrukturierungen. Eine Leistungskonzentration sollte erfolgen, die besten Spieler vom SC Rotation und dem SC Lok wurden im SC Lokomotive Leipzig versammelt und in den neuen Club nach Probstheida delegiert. In Leutzsch, einem klassischen Arbeiter- und Industrie-Viertel, verbleiben die übrigen Spieler. Die Legende vom 'Rest von Leipzig' bei der BSG (Betriebssportgemeinschaft) Chemie Leipzig war geboren.“ Innerhalb kürzester Zeit muss Trainerfuchs Alfred Kunze (nach dem heutzutage das Stadion benannt ist, der Alfred-Kunze-Sportpark) aus den aussortierten Spielern eine oberligataugliche Mannschaft formen. Chemie wird als Underdog zum Zuschauermagneten, für die Oberen der Parteiführung, die alles im Griff zu haben scheinen, ein Dorn im Auge, der Leutzscher Georg-Schwarz-Sportpark zur schier uneinnehmbaren Festung. Mit dem Publikum im Rücken wollen die Spieler in den grün-weißen Trikots allen beweisen, dass sie besser sind als die Auserwählten in Probstheida.
Frank Illge setzt sich durch
Frank Illge setzt sich durch. Aus dem privaten Archiv von Illge.


Die erste Gelegenheit ergibt sich am 6. Spieltag, als Chemie und der SCL zum ersten Derby vor 30.000 Zuschauern im Zentralstadion aufeinander treffen. Chemie gewinnt 3:0 und setzt sich in der Spitzengruppe fest. Zur Halbserie liegen die “Undedogs“ auf dem dritten Platz, von Abstieg ist keine Rede mehr. Im Gegenteil, jetzt will man mehr in Leutzsch. Auch das Rückspiel gegen den SC Lok Leipzig gewinnen die Grün-Weißen, diesmal vor 40.000 Zuschauern, drehen einen 0:1-Rückstand noch zum 2:1-Sieg. Jetzt fängt man langsam an, nach mehr zu streben. Und dann kommt der legendäre 10. Mai 1964. 10.000 Leipziger Schlachtenbummler machen sich auf den Weg nach Erfurt. Ein Sieg fehlt noch, um die Meisterschaft in die Messestadt zu holen. Aber auch Gastgeber Erfurt muss gewinnen, um nicht aus der Oberliga absteigen zu müssen. Für Spannung ist also gesorgt. Aber Chemie zeigt sofort, wer hier als Sieger vom Platz gehen wird. Bereits nach 13 Minuten ist das Spiel entschieden, Chemie führt frühzeitig mit 2:0, so auch am Ende. Nach dem Abpfiff stürmen die Leipziger Fans den Rasen und tragen die Meistermannschaft auf Schultern in die Kabine.

Spielszene Chemie LeipzigRW Erfurt Ende der 70er Jahre
Spielszene aus der Partie Chemie Leipzig gegen RW Erfurt (Ende der 70er Jahre). Aus dem privaten Archiv von Illge.
„Chemie wurde Deutscher Meister, eine der größten Sensationen der deutschen Fußball-Geschichte und ein 'Schlag in die Fresse der Politiker'“, so Frank Illge stolz , der damals vierjährig noch nicht so viel mitbekommt vom tollen Titel-Triumph seiner zukünftigen großen Liebe. Mit sechs Jahren streift „Fränkie“ selbst zum ersten Mal das grün-weiße Trikot der Chemiker über und bleibt den Leutzschern 24 Jahre lang bis 1990 treu. „Wir waren in Leipzig mit Chemie so etwas wie der FC St. Pauli in Hamburg, Lok stellte den HSV dar. Wir waren die Arbeiter, die Rebellen, die stets Benachteiligten und auf der anderen Seite war der große FC Lokomitive Leipzig, der in den 70er und 80er Jahren zu den erfolgreichsten Vereinen der DDR-Oberliga zählte und mit insgesamt 77 Europapokalspielen zu den bekanntesten DDR-Fußballclubs in Europa gehörte. Ähnlich wie auch für den FC St. Pauli gab es Jahre, in denen wir in der ersten Liga spielten, allerdings mussten wir auch über Jahre in der zweiten Liga, zumeist oben mitspielend, kicken. Die übliche Geschichte: Für die erste Liga waren wir zu schwach, für die zweite Liga zu stark. Wir wurden immer belächelt als 'die kleinen Leipziger', standen stets im Schatten der 'Blau-Gelben' aus Probstheida. Profis gab es damals bei uns in der DDR ja nicht, wir waren alle sogenannte 'Staatsamateure'. Jeder Spieler in unserer Mannschaft war irgendwo in einem Betrieb angestellt, natürlich 'scheinangestellt'. Ich habe eine Ausbildung zum Maschinenbauer gemacht und wurde dann in die VEB ElGuWa, Volkseigener Betrieb Elastizitäts- und Gummi-Werke, geschickt. Dort wurden Reifen, medizinische Produkte und alles, was mit Gummi zu tun hatte, hergestellt. Ich bin dort jedoch nicht ein einziges Mal aufgetaucht, es war alles nur pro forma, ich wusste nicht einmal, wie es in dem Betrieb aussieht“, erzählt Frank lachend.

Programmheft Chemie Leipzig Heimspiel gegen Dynamo Dresden 1983 1984
Programmheft von der Partie Chemie Leipzig gegen Dynamo Dresden aus der Saison 1983/84. Aus dem privaten Archiv von Illge.
Vereine, die ein „Dynamo“ im Namen haben, im Fußball Dynamo Dresden, BFC Dynamo Berlin, sind in jenen Zeiten der Volkspolizei, der Zollverwaltung oder dem Ministerium für Staatssicherheit unterstellt, im Eishockey Dynamo Weißwasser, im Rudern Dynamo Potsdam, Dynamo Klingenthal im Skisport. Die „Lok“-Kicker, Lokomotive Leipzig, Lok Stendal, Lokomotive Magdeburg sind die Eisenbahner. „In den ersten beiden Ligen konnte man als 'Staatsamateur', oder 'DDR-Profi', ganz gut leben. Im Westen wusste natürlich jeder, wie das Prinzip läuft. In vielen weiteren Sportarten gehörten die DDR-Athleten über lange Jahre zu den besten und erfolgreichsten Akteuren, so z.B. in der Leichtathletik, beim Schwimmen, im Handball. Wir haben keine Reichtümer angehäuft, aber es war okay. Natürlich gab es die Bezahlung auch nur in Ost-Mark. Wenn du in deinem Verein starke Leistungen gezeigt hast, konnte es passieren, dass du 'von oben' wegdelegiert wurdest. Das hieß: Du musstest, ob du wolltest oder nicht, zum 1.FC Magdeburg, nach Dresden oder auch zum FC Lok Leipzig, dem Rivalen wechseln. Der Oberliga-Rekordtorschütze, Rekordnationalspieler und A-Länderspiel-Rekordschütze Joachim Streich sollte Mitte der 70er Jahre von Hansa Rostock nach Magdeburg delegiert werden. Er wollte aber nicht wechseln und es gab ein Riesentheater, bis Streich dann doch klein beigab, er wäre sonst 'kaltgestellt worden', hätte gar nicht mehr spielen dürfen. Oder wie Peter Kotte, der 1981, als bei seinem Mannschaftskameraden, dem 35-maligen Nationalspieler Gerd Weber von Dynamo Dresden, eine geplante Republik-Flucht aufgedeckt wurde, wegen Mitwissenschaft in den Bau kam. Anschließend wurde der 21-malige Nationalspieler lebenslang für die zwei höchsten Spielklassen im Spielbetrieb des DFV (Deutscher Fußball Verband) gesperrt. Er wurde übrigens 1991 seitens Dynamo Dresden rehabilitiert. Es waren schon harte Zeiten damals“, weiß Frank Illge von schönen, aber auch nachdenklichen Geschehnissen zu berichten.

Tausende von Chemie Fans in der Oberliga 1983 1984 Frank Illge
Tausende von Chemie-Fans in der Oberliga 1983/84. Aus dem privaten Archiv von Illge.
„In meinen ersten Jahren wurden wir mit Chemie dem Ruf einer Fahrstuhlmannschaft gerecht, spielten abwechselnd in der ersten und zweiten Liga. 1982/83 wurden wir nach einem spannenden Zweikampf mit Vorwärts Dessau Staffelsieger in der zweitklassigen DDR-Liga. Die Euphorie war riesig. Zum Spiel gegen Dessau kamen 19.000 Zuschauer nach Leutzsch. Und auch in der Aufstiegsrunde konnten wir uns durchsetzen. Nach drei Jahren der Zweitklassigkeit waren wir mit Chemie im Sommer 1983 wieder in der Oberliga. Wir, das waren die Kameraden, mit denen ich von Kindheit an bei den Leutzschern am Ball war: Michael Reimer, Matthias Weiß, Hans-Jörg Leitzke, wir gehörten alle dem '60/61er-Jahrgang' an, waren und sind befreundet und kannten uns natürlich aus dem Eff-Eff.“

Morgen: Frank Illge macht das Spiel seines Lebens - und schreibt mit den "Chemikern" Fußballgeschichte.
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