03.10.2019 13:25

Sportmix


In Sekunden in ein anderes Leben: „Schulle“, der große Kämpfer!

Mitten im Handballspiel: Am 18. April 2015 verändert für den Pyrmonter Sebastian Möller schlagartig alles / Eine bewegende Geschichte über eine Einstellung, die anderen als Vorbild dienen kann
Sebastian Moeller HSG Luegde Bad Pyrmont 1 AWesA
Sebastian Möller (hier beim Treffen mit Matthias Koch) zeigt sein HSG-Trikot mit der Nummer 17, auf dem seine Mitspieler unterschrieben haben.

In Sekunden kann sich die Welt verändern. Plötzlich ist alles anders. Alles. Ohne Vorwarnung. Aus dem Nichts. Für Sebastian Möller kommt dieser Moment an einem frühen Samstagabend. Es ist der 18. April 2015, der sein Leben radikal verändern wird. „Schulle“, wie er von seinen Freunden genannt wird, ist schon morgens angespannt. Diese Fokussierung eben, wenn in einigen Stunden ein wichtiges Punktspiel ansteht. Seine HSG Lügde-Bad Pyrmont steht in Bad Münder auf der Platte. Ein Auswärtssieg am vorletzten Spieltag würde den Showdown in eigener Halle bedeuten. Dann könnte das Team von Trainer Sascha Boldt die Meisterschaft gegen ho-handball II perfekt machen. Dass das Duell bei der TuSpo am Ende überraschend deutlich mit 32:22 gewonnen wird, interessiert am Abend allerdings niemanden mehr.

„Plötzlich haben meine Augen getränt“


Weil er die Wochen zuvor kaum trainiert hat und über erhöhten Blutdruck klagt, steht Möller selbst an diesem Tag nicht auf dem Spielfeld. Dennoch ist er mittendrin und nimmt nach dem Aufwärmen auf der Bank an der Seitenlinie platz, um seine Jungs aus nächster Nähe zu unterstützen. Die Partie ist hart geführt, nervenaufreibend, zunächst spannend. Und dann beginnt plötzlich Sebastians Leidensweg. „Plötzlich haben meine Augen getränt“, beginnt der damals 28-Jährige zu erzählen. Kurz in die Kabine, das Gesicht mit kaltem Wasser waschen und weiter geht’s. So lautet anschließend der Plan. Doch daraus wird nichts. Erst wird Möller,
Sebastian Moeller HSG Luegde Bad Pyrmont 1 AWesA
Seine Mitspieler von der HSG Lügde-Bad Pyrmont mit Sebastians Trikot.
der damals noch Schulz heißt, schwindelig, dann übel. „Ich habe meinen Trainer Sascha Boldt daraufhin gebeten, einen Krankenwagen zu rufen“, schildert Möller. Zufällig ist der Onkel eines Mitspielers, selbst Arzt, auf der Tribüne und leistet erste Hilfe - bis der Notarzt eintrifft. Es ist Mitte der zweiten Halbzeit. Mit dem Gang in das Rettungsfahrzeug enden Möllers Erinnerungen vorerst. „Ich bin eingestiegen, mir ist schlecht geworden. Dann habe ich mich übergeben und war weg.“

Blutschwämmchen im Kopf platzt


Die Situation ist für die Menschen vor Ort nicht greifbar. „Schulle hat mir vorher schon gesagt, dass es ihm nicht so gut gehe“, blickt Boldt zurück. „Dass der Krankenwagen noch nach Spielende vor der Halle stand und es ernst ist, haben wir erst hinterher mitbekommen“, erinnert sich auch Jörn Hänning, der die Situation als Zuschauer auf den Rängen erlebt. Als der Fahrer den Motor des Krankentransporters anschmeißt, schläft „Schulle“ bereits. Was zu diesem Zeitpunkt niemand ahnt: Ein Blutschwämmchen im Kopf ist geplatzt. Fatale Folge: Eine sogenannte „spontane Ponsblutung“. Lebensgefahr! Für Möller beginnt eine Reise auf „des Messers Schneide“, die von Bad Münder zunächst nach Bad Pyrmont führt, ehe es mit einem Intensiv-Transport in die Uni-Klinik Göttingen geht – für ganze zwei Monate.

Showdown in Südhalle, aber Gedanken in Göttingen


Als für seine HSG eine Woche später in der Sporthalle an der Südstraße das direkte Duell um die Meisterschaft gegen ho-handball II am letzten Spieltag ansteht, liegt Sebastian im künstlichen Koma – insgesamt zehn Tage lang. Seine Mannschaft verliert. Das spielt aber keine Rolle. Die Gedanken der Mitspieler sind in Göttingen (> siehe AWesA-Video <). „Die Mannschaft stand unter großem Schock. Wir haben vorher sogar überlegt, das Spiel sausen zu lassen, waren uns aber einig, dass 'Schulle' gewollt hätte, dass wir spielen“, unterstreicht Boldt. So steht das Spiel unter dem Motto: „In den Farben getrennt, in der Sache vereint.“ Denn auch die ho-Handballer bringen ihre Solidarität zum Ausdruck. „Trainer Ingo Weiß hat uns eine Genesungskarte überreicht. Das war ganz großer Sport“, so Boldt.

Lange künstliche Ernährung


Sebastian Möller bekommt von alledem nichts mit. Er schläft tief. „Als ich aufgewacht bin, konnte ich nichts hören, mich nicht verständigen“, berichtet der heute 32-Jährige. „Ich bin künstlich beatmet worden, hatte ein Tracheostoma und konnte dementsprechend nicht sprechen“, so Möller. Nach zwei Monaten Aufenthalt in Göttingen geht's für ihn zurück in heimische Gefilde in die Hessisch Oldendorfer BDH-Klinik. Großen Halt gibt ihm seine damalige Freundin, die er im Mai letzten Jahres sogar heiratet, mit der er nun aber in Scheidung lebt. Viel Kraft geben ihm auch seine Handballkameraden. „Die Jungs aus meiner Mannschaft haben mich zahlreich und oft besucht. Es war für mich weiterhin sehr schwierig zu kommunizieren, da ich nichts gehört habe“, schildert Sebastian, der lange auch künstlich ernährt wird.

„Er hat uns so begrüßt, als wenn nie etwas gewesen wäre"


Sein Freund und Trauzeuge „Oernie“ Hänning erinnert sich an den ersten Besuch in Hessisch Oldendorf im August 2015. „Wir sind mit ein paar Leuten hingefahren und keiner wusste, wie er aussieht und in welchem Zustand er sich befindet. Getroffen haben wir uns vor'm Haupteingang. Er hat uns so begrüßt, als wenn nie etwas gewesen wäre, mit denselben Floskeln und lockeren Sprüchen wie immer. Ich habe mich sehr gefreut und nur gedacht: Boah, ist der gut drauf“, gibt Hänning Einblicke.
Sebastian Moeller HSG Luegde Bad Pyrmont 3 AWesA
Treffende Sysmbolik: Auf seinem Unterarm erinnert Sebastian an den 18. April 2015.
„Er hat uns gleich erzählt, was er so machen will. Schon als er aus dem Koma erwacht ist, wusste er alles: Wlan-Passwort, Bankdaten und so weiter. Das ist mir hängengeblieben.“ Ende November geht's für Sebastian dann endlich zurück nach Bad Pyrmont, wo seine damalige Freundin in der neuen Wohnung auf ihn wartet. Es folgen viele Höhen und Tiefen. Bis heute. Nach der Trennung von seiner späteren Frau wohnt Sebastian mittlerweile in Hameln. Seine Mutter lebt im selben Haus, die Tante gegenüber. Das hilft im wahrsten Sinne des Wortes.

„Für mich ist und bleibt er Teil der Mannschaft“


Nach wie vor ist er in der WhatsApp-Gruppe der HSG-Herren. Die Verbindung ist geblieben. „Für mich ist und bleibt er Teil der Mannschaft“, stellt Coach Boldt unmissverständlich klar. Das weiß Möller zu schätzen: „Wenn ich die Jungs brauche, sind sie sofort da.“ Seine Einstellung zum Leben ist bemerkenswert. Die positive Energie ist regelrecht greifbar. Mit Blick auf die letzten viereinhalb Jahre ist das alles andere als selbstverständlich. „Auch ich habe natürlich schlechte Tage. Denn es ist sehr schwierig, sich jeden Tag neu zu motivieren“, weiß „Schulle“, der auch die Momente der Rückschläge bewusst anspricht. Nach ein paar Monaten sei er „in ein tiefes, schwarzes Loch gefallen“, habe Depressionen bekommen. „Es waren auch Selbstmordgedanken vorhanden. Schließlich war ich früher ein sehr aktiver Mensch und mein Leben hat sich komplett geändert“, verrät er. „Daraufhin wurde ich medikamentös eingestellt. Es war ein Kraftakt da wieder rauszukommen.“ Der bekennende BVB-Fan hat aber die emotionale Kurve bekommen. Ganz nach dem Motto von Torwart-Legende Oliver Kahn: „Weiter, immer weiter!“ Alles sei eine Frage der Motivation. Er weiß: „Ich habe noch Glück im Unglück gehabt und bin froh, dass mein Kopf heile geblieben ist!“

"Es geht immer vorwärts"


Zwischenzeitlich hat er ordentlich zugelegt, mittlerweile durch Krafttraining und Ernährungsumstellung 40 Kilo (!) abgenommen. Wenn Sebastian seine Gedanken in Worte fasst, überziehen sich die Arme des Gesprächspartners mit Gänsehaut. Es entsteht mehr als Anerkennung. Ehrfurcht trifft es vielleicht besser. Er hat jetzt schon mehr erreicht, als ihm mancher Mediziner in Aussicht gestellt hat. „Auf diese Meinungen höre ich nicht mehr. Viele Ärzte haben nur ihre Schulmedizin aus Büchern im Kopf. Ich merke selbst, dass es immer weiter vorangeht. Auch wenn es nur kleine Schritte sind - es geht immer vorwärts“, lautet sein Motto. Die Selbstständigkeit kommt langsam zurück. Im Rollstuhl bewegt er sich durch Abstoßen mit den Füßen vorwärts. In den Händen fehlt es noch die nötige Koordination. Auf Hilfe ist Sebastian dennoch angewiesen. Jeden Tag kommt der ambulante Pflegedienst.

Sebastian möchte seine Geschichte erzählen


Eine wichtige Handlung für ihn ist nun, seine bewegende Geschichte zu erzählen. Deshalb ist er ganz bewusst auf AWesA zugekommen. „Das ist alles ein sehr großer Schritt für mich. Ich habe zwei Möglichkeiten: Entweder ich verkrieche mich und möchte am Leben nicht mehr teilnehmen. Oder: Ich bin stolz auf mich und nehme am Leben teil. Ich habe mich für das Letztere entschieden!“ Symbolisch hat er sich seinen Unterarm tätowieren lassen: „18.04.2015 that is not the day to die.“ Passender könnte es nicht formuliert sein. Daneben: Spielkarten, die einen „Royale Flush“ bilden. Damit gewinnt man beim Pokern jedes Spiel. Das passt zu ihm. „Man darf den Kopf nicht hängen lassen, nie aufgeben. Und man muss sich selbst akzeptieren können. Schlechte Laune bringt mir nichts – und den anderen auch nicht.“ Das klingt alles so unglaublich einfach.

Ein Vorbild für andere


Das Leben ist kein Spiel. Sebastian zieht seinen persönlichen „Royale Flush“ jeden Tag. Er kann nicht nur unendlich stolz auf das sein, was er seit diesem 18. April 2015 geschafft und geschaffen hat. Das ist nicht nur seine eigene Geschichte. Es ist wie eine Anleitung für andere, schier unüberwindbare Hürden hinter sich zu lassen. Deshalb sagen wir: Danke, „Schulle“!
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Autor des Artikels

Matthias Koch
Matthias Koch
Matze ist Gründer, Gesellschafter und Geschäftsführer von AWesA und damit seit Sommer 2008 auch als Redakteur mit dabei.
Telefon: 0176 / 81066165
koch@awesa.de

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