27.07.2010 22:54
„Fingerspitzengefühl hat ein Schiedsrichter nicht!“
Michael Rieke und Susanne Dombek-Schröder im AWesA-Interview
Sie sind nicht nur die Richter des Spiels – sie sollen auch die Helfer der Spieler sein: Die Schiedsrichter. Wir sprachen mit dem Vorsitzender des Hameln-Pyrmonter Schiedsrichter-Ausschusses, Michael Rieke (re.), und Susanne Dombek-Schröder (li./stv. Lehrwartin) über die zunehmende Kritik an den heimischen Schiris, Nachwuchs-Talente und über die Frage, ob ein guter Unparteiischer selbst gut Fußball gespielt haben muss.
AWesA: Auch wenn es im „großen Fußball“ momentan keine akute Schiedsrichter-Diskussion gibt, wird bei uns vor Ort die Kritik von Trainern und Spielern in Bezug auf die Leistung der Unparteiischen immer lauter. Fehlt den Schiris im Kreis das Fingerspitzengefühl?
Michael Rieke: „Das Fingerspitzengefühl gibt es auf dem Fußballplatz eigentlich überhaupt nicht. Du hast ein Regelwerk. Das musst du umsetzen. Mitunter sind da krasse Entscheidungen bei, die du durchziehen musst. Dass da manche Mannschaftsbetreuer nicht mit einverstanden sind, kann ich nachvollziehen. Fingerspitzengefühl hat ein Schiedsrichter nicht! Wenn er drei Elfmeter geben muss, muss er sie geben. Das ist halt so.“
AWesA: Mit fehlendem „Fingerspitzengefühl“ ist wohl eher gemeint, dass auf der einen Seite – überspitzt formuliert – brutale Foulspiele an der Mittellinie nicht verwarnt werden und bei Nachfragen von Entscheidungen Gelb oder Rot gezeigt wird. Fehlt die Erfahrung oder wird das Strafmaß falsch angewendet?
Susanne Dombek-Schröder: „Ich denke nicht, dass die Erfahrung fehlt. Sondern es ist einfach das Regelwerk. Wir haben jedes Jahr ganz kleine differenzierte Änderungen in den Regelauslegungen. Die müssen erstmal von allen verinnerlicht werden. Am wenigsten verinnerlichen tun das die Trainer, Betreuer und Spieler! Da gibt es große Probleme. Ich fahre ganz oft zu Beobachtungen und stelle immer wieder fest, dass der Fußballverstand im Bereich Trainer und Betreuer ganz, ganz tief gesunken ist.“
AWesA: Die Diskussionen auf dem Fußballplatz sind also auf die fehlenden Regelkenntnisse der Trainer, Betreuer und Spieler zurückzuführen?
Dombek-Schröder: „Meine persönliche Meinung ist, dass zu wenig Theorie mit den Spielern umgesetzt wird. Es wird auf dem Platz gebolzt. Es werden den Spielern die tollen Tricks und Taktiken vermittelt, aber dieses bisschen Theorie, was auch wichtig wäre, fehlt. Wenn ich ins Sportheim zu Siggi Motzners Trainerlehrgängen komme, sehe ich immer ein und dieselben Gesichter. Und die großen Krakeeler fehlen eigentlich.“
AWesA: Fällt Euch dieses Phänomen auch bei den Beobachtungen auf?
Rieke: „Selbstverständlich. Viele Trainer stehen draußen und haben überhaupt keine Ahnung, was sie da reinschreien zu ihren Spielern. Zumindest was die Fußballregeln betrifft. Das Taktische kann ja alles richtig sein. Es ist eben so, dass viele keine Fußballregel-Kenntnis haben. Und da sollte man eventuell schon mal ein bisschen tätig werden.“
AWesA: Ist Gemeckere und unsachliches, lautstarkes Protestieren die Folge vom Fehlverhalten der Vorbilder, Bundesliga-Stars und Nationalspieler?
Rieke: „Der Schiedsrichter in der 1. Kreisklasse guckt samstags die Bundesliga, steht sonntags selbst auf dem Platz und muss sich das natürlich abgucken.“
Dombek-Schröder: „Die verbale Aggression ist ganz schön gestiegen auf den Spielfeldern.“
Rieke: „Die Waage sollte immer da sein. Wie schon gesagt: Wenn im Mittelfeld einer mit zwei Beinen umgegrätscht wird, muss natürlich eine persönliche Strafe kommen. Für’s Meckern, ok…“
Dombek-Schröder: „…Meckern und Meckern ist zweierlei.“
Rieke: „Man sollte wenig hören, aber viel sehen.“
Dombek-Schröder: „Es muss immer situationsabhängig gesehen werden. Wenn der Schiedsrichter den Vorteil gegeben hat und der Ball des Spielers geht anschließend über das Tor, dann bist du der Buhmann und wirst angemeckert. Fingerspitzengefühl gibt es nicht, aber da muss man auch bisschen Sensibilität für die Spieler entwickeln. Das Regelwerk sagt aber ganz klar aus, dass wenn einer lautstark auf dich zukommt und dich anblafft, eine Gelbe Karte fällig ist. Es gibt halt unsere Pflichtverwarnungen und dazu gehört auch so etwas.“
AWesA: Gibt es bestimmte Spieler, die ein Schiedsrichter schon im Vorfeld besonders auf dem Kieker hat?
Rieke: „Jedes Spiel fängt bei Null an.“
Dombek-Schröder: „Es gibt auch immer wieder Spieler, die provozieren, bis sie ihre Gelbe Karte haben – und dann spielen sie Fußball. Aber deswegen gehst du nicht in ein Spiel hinein und sagst: ‚Mein Gott, nicht der schon wieder!’ Sondern du lässt es auf dich zukommen und wartest ab.“
AWesA: Geht Ihr bei der Ausbildung neuer Schiedsrichter auf solche Stress-Situationen ein.
Rieke: „Dafür fehlt die Zeit. Du hast sechs Abende zur Verfügung, plus den Prüfungsabend. Sicherlich, hätten wir zwei Abende mehr, könnten wir ein bisschen Praxis machen. Das müssen sie eben in den Lehrabenden nachholen, zum Beispiel bei der Talentförderung, wo man auf die Praxis übergeht und wo auch Stresssituationen dargestellt werden. Ich denke aber, dass es nicht die Jung-Schiedsrichter sind, die auf Verbalattacken zu sehr eingehen. Ich denke, das sind eher die ‚alten Hasen’, die jedes Wort hören und auch mit Karten bestrafen. Das sollte natürlich nicht so sein. Die Jung-Schiedsrichter sind gut geschult und gehen da ganz locker ran.“
AWesA: Nachwuchs ist ein gutes Stichwort. Mit Johann Pfeifer und Sven Binder verfügen Hameln-Pyrmonts Schiedsrichter über zwei Nachwuchs-Schiris, die im Juniorenbereich in der Bundesliga pfeifen. Sind die beiden die Vorbilder für den Nachwuchs?
Rieke: „Im Moment sind das die Aushängeschilder.“
Dombek-Schröder: „Unser Unterbau ist gerade in der Jugendarbeit sehr gut. Wir haben sehr viele junge Schiedsrichter-Kollegen jetzt auch im Bezirk. Und haben jetzt auch schon wieder zwei, drei Talente, bei denen wir sagen, wenn sie so weiterarbeiten, haben sie in der nächsten Saison auch den Sprung in den Bezirk geschafft. Jetzt am Wochenende hatten wir unseren Talentförderkader in Lauenstein zusammen und haben dort eine Wochenend-Schulung gemacht. Um eben auch die Praxis zu vermitteln. Was passiert vor, während und nach dem Spiel.“
AWesA: Im Talentförderkader werden also – wie der Name schon sagt – die größten Talente gezielt gefördert.
Rieke: „Da kommt auch Sven Binder raus. Der war bis vor drei Jahren noch in unserem Talentförderkader, bis er dann in den Bezirks gegangen ist. Jetzt ist er in den Verband aufgestiegen, im DFB-Bereich und pfeift B-Junioren-Bundesliga. In der nächsten Saison hoffentlich A-Junioren-Bundesliga.“
AWesA: Im Nachwuchs sind die heimischen Schiedsrichter scheinbar gut aufgestellt.
Rieke: „Noch ja! Irgendwann wird aber die Lücke kommen, wenn die Alten gehen. Das ist unser großes Problem. Wenn unsere Kreisliga-Leute mit vier, fünf auf einen Schlag aufhören würden, könnten wir die Kreisliga nicht in der Qualität besetzen.“
AWesA: Pfeifer und Binder haben die Perspektive, vielleicht einmal Bundesliga-Spiele zu pfeifen. Hat es in der Geschichte schon einmal einen Erstliga-Schiri aus Hameln-Pyrmont gegeben?
Rieke: „Andreas Wittrock war Zweitliga-Schiedsrichter und in der Bundesliga Assistent.“
AWesA: Wie ist es, wenn ein aktiver Spieler seine Fußballschuhe an den Nagel hängt, ein guter Schiedsrichter ist und gern in der Kreisliga pfeifen möchte. Muss er sich dann von der untersten Jugendebene hocharbeiten oder kann er sein Ziel möglichst schnell verfolgen?
Rieke: „Wenn er Ende 20 ist und talentiert, dann wird er im Herren-Bereich erst einmal in der 2. Kreisklasse für ein, zwei Spiele angesetzt. Dann werden wir mal gucken, weil das ja Leute sind, die wir brauchen. Es wird mit Sicherheit ein Beobachter hinfahren. Wenn er gut ist, dann bitte schön!“
AWesA: Mann sagt: Die besten Schiedsrichter haben selbst einmal Fußball gespielt. Würdet ihr das unterschreiben?
Dombek-Schröder: „Nein.“
Rieke: „Nicht ganz. Aber da ist was dran. Wenn ich zum Beispiel Andy Kriks sehe: Oberligaspieler, dann Landesliga-Schiedsrichter.“
AWesA: Wir danken Euch für das Gespräch und wünschen für die Zukunft viel Erfolg.
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