08.10.2015 11:44

Interview


„Man kann die Natur nicht austricksen“

Privatdozent Dr. med. Jens Agneskirchner im Interview über Schulterverletzungen / „Einige Verletzungen sind nicht mit Präventionsmaßnahmen zu greifen“
Dr. med. Jens Agneskirchner
Privatdozent Dr. med. Jens Agneskirchner ist Experte für Schulterverletzungen.
Immer wieder hört man von Verletzungen im Beinbereich – Knöchelbrüche, Kreuzbandrisse und Innen- oder Außenbandrisse gehören zu den Schattenseiten des Sportleralltags. Was dabei häufig untergeht, sind Verletzungen im oberen Teil des Körpers. Gerade der Schulterbereich zählt zu den Regionen, die vor allem in Kontaktsportarten häufig in Mitleidenschaft gezogen werden. AWesA hat aus diesem Grund mit PD Dr. med. Jens Agneskirchner über Schulterverletzungen gesprochen. Der Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie weiß, wovon er spricht – er hat über 600 Vorträge und 60 Live-Operation auf nationalen und internationalen Kongressen durchgeführt, ist als Schulterexperte in der Ärzteliste des Fokus gelistet und selbstständig leitender Arzt der Gelenkchirurgie und Orthopädie Hannover go:H.

Im Sport wird man mit zahlreichen Verletzungspräventionsmaßnahmen für den Beinbereich konfrontiert – der Oberkörper geht dabei manchmal ein bisschen unter. Welche Präventionsmaßnahmen bieten sich für den Oberkörper an, speziell die Schulter?
PD Dr. Jens Agneskirchner: Das Wichtigste ist, sich langsam an die Sportarten heranzutasten. Von null auf hundert in eine Kontaktsportart zu starten, bei der man vielleicht noch nicht so den Zugang hat, birgt natürlich erhöhte Risiken. Ansonsten gelten für den Rumpf und die oberen Extremitäten die gleichen Regeln wie für den Beinbereich, Aufwärmen et cetera. Einige Verletzungen, wie in diesem Beispiel die ausgekugelte Schulter, sind allerdings nicht unbedingt mit Präventionsmaßnahmen zu greifen. Bei einem gut trainierten Sportler ist die Verletzungsgefahr meistens niedriger. Doch gerade bei Sportunfällen geht es meistens so plötzlich, dass selbst gut trainierte Muskeln gar nicht so schnell reagieren können, um eine Verletzung abzuwenden. Abgesehen von diesen unvorhersehbaren Verletzungen gibt es auch die Überlastungen. Wenn beispielsweise ein Tennisspieler seit Jahren über Schmerzen im Arm klagt und sich immer wieder mit Schmerzmitteln selbst behandelt, birgt das ebenfalls sehr große Gefahren. Am Beispiel der ausgekugelten Schulter ist es überhaupt nicht sinnvoll, sich ohne eine eingehende Untersuchung mit Schmerzmitteln ,fit zu spritzen', wenn möglicherweise Bänderverletzungen vorhanden sind.

Selbst bei der besten Vorbereitung sind Verletzungen nie auszuschließen. Wie sieht die erste Hilfe bei einer ausgekugelten Schulter aus?
PD Dr. Jens Agneskirchner: Grundsätzlich gilt: Ein ausgerenktes Gelenk sollte schnellstmöglich wieder eingerenkt werden. Ob das schon auf dem Sportplatz oder erst im Krankenhaus geschehen muss, ist umstritten. Das Problem ist, wenn man es unsachgemäß und unter großen Schmerzbedingungen macht, kann mehr kaputt gehen, als es eigentlich Not tut. Grundsätzlich kann man sagen: Ja, auf dem Spielfeld. Aber nur, wenn jemand zu Verfügung steht, der es auch wirklich kann. Und wenn es jemand kann, hat man nur einen Versuch. Wenn die Einrenkung beim ersten Versuch nicht erfolgreich ist, sollte man direkt in die Klinik gehen. Ansonsten kann man durchaus den Notarzt rufen. Wenn das Krankenhaus in der Nähe ist, kann man den Betroffenen stattdessen auch vorsichtig ins Auto setzen und dort hin fahren.
 
Oft kugelt man sich die Schulter nach dem ersten Mal immer wieder aus. Woran liegt das? Wie kann ich dem vorbeugen?
PD Dr. Jens Agneskirchner: Wenn eine normale, stabile Schulter durch eine Gewalteinwirkung ausgekugelt wird, reißen fast immer Bänder und eine sogenannte Gelenkrandlippe. Wenn die Schulter dann wieder eingerenkt wird, heilen diese Strukturen nicht ausreichend aus. Es entsteht eine Art chronische Wunde am Bandapparat der Schulter, der infolgedessen nicht richtig funktioniert. Sobald man den Arm in eine Stellung bringt, in der der betroffene Bandapparat in der Schulter beansprucht wird und dieser gar nicht wirklich intakt ist, springt das Gelenk bei der kleinsten Gewalteinwirkung wieder heraus. Diese Wirkung wird mit jedem weiteren Auskugeln potenziert – beim zehnten Mal passiert es dann nachts im Schlaf.
 
Häufig bleibt es nicht beim „simplen“ Einrenken der Schulter. Welche Faktoren entscheiden, ob eine Operation durchgeführt werden muss?
PD Dr. Jens Agneskirchner: Eine Frage ist das Alter der betroffenen Person. Je jünger man ist, desto eher tendiert der Arzt zu einer Operation. Dann stellt sich die Frage nach der Aktivität. Wenn ich einen Sportler vor mir habe, würde ich eher operieren als bei einem Menschen, der sich körperlich nicht so sehr betätigt. Die Wahrscheinlichkeit einer erneuten Ausrenkung ist bei einer körperlich nicht so aktiven Person nicht so sehr gegeben. Und drittens stellt sich die Frage nach dem entstandenen Schaden durch die Auskugelung. Es gibt Menschen, bei denen ist der Schaden sehr gering, bei manchen ist er größer.
 
Für einen Sportler ist der Weg nach der Verletzung oft unklar. An wen muss er sich bei einer Schulterverletzung wenden, welche Instanzen wird er wahrscheinlich durchlaufen?
PD Dr. Jens Agneskirchner: Grundsätzlich würde ich einen orthopädischen oder chirurgischen Facharzt aufsuchen. Es gibt allerdings auch Allgemeinmediziner, die in diesem Gebiet gut geschult sind. Dort muss dann eine klinische Untersuchung stattfinden, bei der die Verletzung begutachtet und getestet wird. Überdies wird dann auch eine Bildklärung vorgenommen. Es werden Röntgenaufnahmen und/oder ein MRT durchgeführt. Ob ein Orthopäde in dem spezifischen Gebiet, wie jetzt der Schulter, sehr gut bewandert ist, muss man herausfinden. Es gibt keine speziellen Zertifikate, die dies ausweisen. Die Erfahrung des Orthopäden macht es.
 
Welche Übungen kann ein Sportler nach einer Schulterverletzung abseits der Krankengymnastik machen, um schnell wieder fit zu werden?
PD Dr. Jens Agneskirchner: Es gilt bei derartigen Schulterverletzung nicht die Regel, dass derjenige, der am meisten trainiert, am schnellsten fit wird. Viel mehr ist Ruhe und Geduld angebracht. Erst nachdem alles verheilt ist und man möchte nach drei Monaten die Schulter wieder voll nutzen können, dann ist diese Regel anwendbar. In der Frühphase muss aber einfach abgewartet werden, da kann man die Natur nicht austricksen.
 
Vielen Dank für das Gespräch, Herr PD Dr. Agneskirchner.

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