30.12.2023 08:26

Interview


Selbst, wenn Hannover 96 anklopft - Er will doch nur spielen

„Das sind Momente, die mir Hoffnung machen, das wir am Ende doch nur spielen wollen“
Alexander Wies SG Flegessen 1 Kreisklasse
Alexander Wies macht das, was er liebt: spielen.
„Kürzt es ruhig“, hat er gesagt. Wir sagen: „Nö.“ Alexander Wies schlich sich über Flegessen II in die Herzen der heimischen Fußballfans. Wer gegen ihn gespielt hat, sagt AWesA anschließend: „Was ist denn das für einer? Der soll ich die Landesliga gehen, aber nicht in der Kreisklasse spielen. Der ist viel gut für diese Liga!“ Zeit für ein Gespräch mit dem Fußballer, der sich selbst eher „stokelig“ findet. Was herausgekommen ist: Ein Stück Biografie, gepaart mit Grundsätzen des Sports und inneren Antrieben. Warum also kürzen? Macht Euch auf eine sehr fruchtbare Bleiwüste gefasst. Ein Mann, der in keine Schablone passt – und damit den heimischen Fußball bereichert. Ein Mann, der über Nicaragua wider Erwarten doch wieder im beschaulichen Niedersachsen gelandet ist. Ein Mann, der doch nur spielen will. Und dafür sogar die 96er als Kind abgewiesen hat.

Alexander, bei Betrachtung von außen bist Du plötzlich in Flegessen aufgetaucht und hast die Mannschaft mal eben auf ein neues Niveau gehoben. Mehrere Gegenspieler haben uns bereits berichtet: Du seist der beste Spieler, gegen den sie in der 1. Kreisklasse gespielt haben. Wie ist Dein Weg verlaufen, dass Du in Flegessen gelandet bist – und wo hast Du gelernt, so zu kicken?
„Ich selbst habe nicht das Gefühl, dass ich besonders gut Fußball spielen kann (lacht). Aber das Niveau einer Mannschaft anzuheben, das kann ich glaube ich ganz gut. Wenn ich einen Ball verliere, dann renne ich hinterher. Wenn wir hinten liegen, dann motiviert mich das. Wenn alle sich anschnauzen, versuche ich das Positive zu sehen. Wo man das lernt? Keine Ahnung. Ehrlich gesagt kann ich mich nicht daran erinnern, dass ich es jemals anders gemacht habe. Diese Qualität wurde mir von außen immer wieder gespiegelt. Da könnt ihr meinen Bambino-Trainer in Aachen fragen, wo ich mit drei bis sechs Jahren gespielt habe oder meinen E-Jugend-Trainer vom TV Badenstedt. Da war dieser unbändige Spaß am Fußball. Bei mir stand mein ganzes Leben der Spaß im Vordergrund. Ich erinnere mich noch ganz genau an eine Szene in unserem Wohnzimmer in Hannover. Ich war um die zehn Jahre alt und das Telefon klingelte. Meine Mutter ging ans Telefon und wechselte ein paar Sätze mit dem Anrufer. Kurz danach machte sie ein etwas überraschtes Gesicht und sagte dann zu mir: 'Da ist Hannover 96 am Apparat, die haben dich gescoutet und möchten dich zum Probetraining einladen.' Warum spiele ich also beim FC Flegessen und nicht bei Hannover 96, fragt ihr euch nun vielleicht. Weil meine Antwort schon mit zehn Jahren war, dass ich lieber mit meinen Freunden spielen will. Mein zehnjähriges Ich antwortete sofort: 'Kein Interesse.' Mein Leben hat mich über viele Umwege nach Flegessen geführt. Nach einem zweeinhalbjährigen Aufenthalt in Nicaragua hätte ich nie erwartet, noch einmal in Niedersachsen zu landen. Ich hatte meine Fußballschuhe mit 21 Jahren an den Nagel gehängt und beschäftigte mich in dieser Zeit mehr mit Buddhismus, Gewaltlosigkeit, Veganismus und Wiederaufforstung. Angekommen in Flegessen, gründeten wir eine Firma, die sich mit lokalen Superfoods beschäftigt und versuchte, mehrere Projekte im Süden zu starten, die jedoch alle scheiterten. Ich habe lange darüber reflektiert, ob ich noch einmal Fußball spielen möchte. Vor allem der kompetitive Charakter und die Aggressivität auf und neben dem Feld gefallen mir überhaupt nicht. Für mich ist es eine Art Selbstexperiment. Bin ich in der Lage, gelassen zu bleiben bei einer Niederlage? Schaffe ich es, ein mitfühlender Mensch zu bleiben, wenn jemand mich auf dem Platz foult? Für mich kann ich diese Frage in den meisten Fällen mit einem Ja beantworten. Ich habe in den letzten zwei Jahren sehr viele wunderschöne Momente auf und neben dem Platz erlebt. Fußballspiele, wo sich beide Mannschaften nach einem extrem hart umkämpften Spiel in den Armen lagen und sich für dieses tolle Spiel bedankt haben. Das ist es doch eigentlich, was wir wollen. Spielen. Spielen in einem sicheren Rahmen, wo beide Teams ihr Bestes geben und dennoch der Sieg nicht an erster Stelle steht. Sondern der Spaß. Vor allem in der Kreisklasse. Es gibt aber auch Bereiche, wo ich es nicht schaffe, mich so zu verhalten, wie ich es von mir wünsche. Ich habe deswegen schon überlegt, wieder aufzuhören. Aber stattdessen habe ich mir vorgenommen, diesen Bereich zu meistern. Ich möchte ein Vorbild sein für jüngere Generationen und die Schiedsrichter auf dem Platz respektieren. Vor jedem Spiel sage ich der ganzen Mannschaft, dass wir die Schiedsrichter respektieren sollen. Ich kenne keinen anderen Sport, bei dem die Schiedsrichter so schlecht behandelt werden wie beim Fußball. Doch warum ist das so? Leider war ich in diesem Punkt vor allem in jüngster Zeit kein gutes Vorbild mehr. Ich habe in ein paar Spielen zu viel mit dem Schiedsrichter diskutiert und darüber den Spaß verloren. Deswegen spiele ich weiter. Ich möchte lernen zu spielen und Spaß zu haben und meine Gegner, die Fans, die Trainer und vor allem die Schiedsrichter zu respektieren. Genauso wenig, wie ein Mitspieler mit Absicht einen schlechten Pass spielt, pfeift ein Schiedsrichter mit Absicht eine falsche Entscheidung. Aber sie sind essentiell für unseren Sport. Sie halten den Rahmen, in dem wir uns sicher fühlen sollten. Mein großer Wunsch für Amateurfußball ist es, dass jeder sich mal ein Handball- oder ein Basketballspiel anschaut. Wir sollten uns ein Beispiel nehmen, wie respektvoll die Schiedsrichter behandelt werden. Und wer schon gegen mich gespielt hat, weiß, dass ich da noch einiges lernen kann (lacht). Mein Ziel vor jedem Spiel? Spaß haben und kein einziges Wort zum Schiedsrichter sagen – und zwei Tore schießen (lacht).“

Bei allem Respekt: Wer ambitioniert Fußball spielen möchte, hat viele Anlaufstellen, die höher spielen als Flegessen. Du bist dennoch dort. Was hat Dich nach dem ersten Probetraining vom Verein überzeugt und Dich sportlich dort sesshaft werden lassen?
„Wie bereits ausführlich erläutert, sind meine Ambitionen beim Fußballspiel in jedem Verein der Welt zu erfüllen. Da es mir nie um Ruhm oder Erfolge ging, ist die Liga oder Klasse zweitrangig. Ich habe auch bei der zweiten Mannschaft von Flegessen angefangen und dort sehr viel Spaß gehabt. Für mich war es essentiell, dass ich mich gut mit allen verstehe. Und wir haben wirklich tolle Menschen im Verein. Auch neben dem Platz werde ich sehr respektvoll behandelt. Ich möchte das hier erwähnen, da es beim Fußball längst keine Selbstverständlichkeit ist, als Veganer mit Respekt behandelt zu werden (lacht). Unser Grillmeister legt ohne doofen Kommentar meine Tofu-Würstchen auf den Grill. Hinzu kommt, dass ich keinen Alkohol trinke. Also, in der dritten Halbzeit quasi mit einem Bein spiele. Bis vor Kurzem hatte ich zu allem Überfluss noch lange Haare. Also ein sehr atypisches Fußballbild. Ich bin in solchen Momenten sehr dankbar, in Deutschland zu leben, wo wir meiner Ansicht nach schon sehr weit sind, andere Kulturen und Lebenswege mit Respekt zu behandeln. Mein Abitur habe ich an der IGS Linden in Hannover gemacht und durfte dort früh eine kunterbunte Welt kennenlernen. Ich erinnere mich noch sehr genau an ein intensives Spiel gegen Thal/Holzhausen in der letzten Saison, am 23. Oktober 2022. Zweiter gegen Dritter kurz vor der Winterpause. Es war ein Aufstiegsrennen pur. Während des Spiels wurde ich mehrfach wegen meiner Haare gehänselt und wenn ich gefoult wurde, dann kam jedes Mal der Kommentar, ich solle nicht so schreien. Beste Voraussetzungen also für eine unschöne Auseinandersetzung. Stattdessen lagen wir uns am Ende des Spiels in den Armen und umarmten uns brüderlich. Das Spiel endete 2:2 und es hatte einfach unheimlich Spaß gemacht. Bis kurz vor Schluss hatte es extrem viele Chancen gegeben. Solche Momente lassen mich hoffen, dass wir uns den Respekt voreinander wiederholen können. Durch Taten, nicht durch Worte. Es bringt nichts, wenn ich meinen Mitspielern sage, dass wir den Schiedsrichter respektieren sollen und es danach selbst nicht beachte.“
Letzte Saison Dritter, in der aktuellen Winterpause Dritter und bei einem Sieg im Nachholspiel winkt sogar ein Aufstiegsrang. Obwohl Euer Altersschnitt je nach Besetzung im Altherrenbereich liegt, dominiert Ihr phasenweise die 1. Kreisklasse der Herren. Wo kommt dieser Antrieb her, sich weiterhin mit den „jungen Wilden“ zu messen?
„Ich glaube, wir sind alle einfach verliebt ins Fußball spielen. Ich habe da eine Anekdote aus der letzten Saison, die verdeutlicht, wie verliebt wir sind! Hinrunde 2022, Aufstiegskampf pur. Letztes Spiel der Vorrunde gegen Erster gegen Zweiter. Nachholspiel gegen Hilligsfeld, weil das Hinspiel beim Stand von 1:0 für uns zur Halbzeit nicht weitergeführt werden konnte, weil das Flutlicht nicht funktionierte. Ihr könnt euch die Stimmung also vorstellen. In meinem Leben kommt Fußball nicht an erster Stelle. Familie, Kinder, Leben, Firma – alles geht vor. Ich war an diesem Wochenende mit der Familie in Paris und würde erst nach dem Spiel wieder zurückkommen. Unser WhatsApp-Chat entwickelte sich in den Tagen zu einem wahren Leuchtfeuer der Kreativität und der Liebe zum Fußball. Wir tüftelten an verschiedenen kreativen Lösungen, wie ich Familie und Fußball vereinen könnte, um doch noch bei dem Spiel dabei sein zu können. Yannick Wagner bot an, mich mit seinem Auto aus Paris abzuholen (lacht). Alternativ hatte Lukas Nowag einen Zug gefunden, der morgens um 04:30 Uhr abfuhr und mich pünktlich zur zweiten Halbzeit zum Sportplatz bringen würde. Vor dem Spiel versuchten wir das Spiel zu verlegen, aber leider war dies nicht mehr möglich. Ich bin immer wieder erstaunt, wie ein Kreisklassen-Fußballspiel manchmal wichtiger sein kann als jedes Champions League-Spiel der Welt. Dieser Mikrokosmos Fußball schreibt seine eigenen Regeln. Momente, in denen ich diese Welt liebe. Und ich bin meinen Teamkameraden und Trainern dankbar, dass sie meine Entscheidung, nicht zu kommen, ohne Murren und nachträglichen Frust akzeptieren. Der Grund, warum ich in Flegessen spiele.“

Ohnehin habt Ihr viele Fußballer, die im fortgeschritten Herrenalter immer noch zeigen, was sie können: Lukas Nowag, Dominik Fecho, Yannick Wagner – um nur einige zu nennen. Wie hast Du  die Klasse dieser im Kreis überall anerkannten Fußballer erlebt?
„Ich muss etwas schmunzeln, weil beim Fußball immer die Offensivkräfte am meisten Lob und Anerkennung bekommen. Das kann man schon an den Marktwerten der Spieler beobachten. Wir lieben einfach Tore. Ich bin die meiste Zeit gerade von unseren Abwehrspielern total beeindruckt. Unsere Abräumer, unsere Innen- und Außenverteidiger. Da gewinnen wir unsere Spiele. Dennoch ist klar: Lukas Nowag ist ein Ausnahmetalent. Unfassbar schwierig zu verteidigen. Immer für ein Tor gut. Fecho läuft gefühlt wie eine Schildkröte über den Platz und jedes Mal denke ich, dem luchse ich jetzt den Ball ab. Und dann plötzlich explodiert er zum Sprint, macht eine Körpertäuschung und ist an dir vorbei. Bei ihm schätze ich seine Führungsqualitäten. Die Präsenz auf dem Platz. Yannick Wagner hat einige wunderschöne Tore diese Saison geschossen und überrascht mich dieses Jahr durch seine harte Disziplin, an seiner Kondition zu arbeiten. Auch außerhalb des Platzes. Für mich aktuell einer unserer fittesten Jungs. Unheimliche Ruhe am Ball und wunderschöne Pässe. Es macht einfach Spaß, mit solchen Jungs Fußball zu spielen. Ich liebe es ja, wenn der Ball rollt. Wenn eine schöne Kombination zu einem Tor führt. Vor dem Tor nochmal quer zum freien Mann. Das sind Tore, die mein Herz erfüllen. Ich selbst bin ja eher so der Thomas Müller. Gefühlt halb am Fallen, stokelig über den Platz rennend, jedem Ball hinterher fighten und sich irgendwie durch drei Mann durchmogeln. Tore sind eher Zufallsprodukte und ein Konzept ist nicht zu erkennen (lacht). Aber der Typ liebt, es dem Ball hinterherzurennen. Liebt den Rausch des Rennens selbst. Das Rangeln mit seinen Brüdern und das sich in den Armen liegen danach. Jetzt gilt es zu zeigen, dass wir Platz machen können im richtigen Moment. Unsere jungen Wilden, die schon in den Startlöchern stehen, zu integrieren. Sie zu motivieren und ihnen Fehler zu verzeihen. Das wird unsere wichtigste Aufgabe im nächsten Jahr. Ich hoffe, wir schaffen diese Verbindung von Alt zu Jung. Gerne würde ich unseren jüngeren Jahrgängen den Aufstieg schenken.“ 

Phasenweise habt Ihr zu den offensivstärksten Mannschaften Niedersachsens gehört, habt nur 18 Gegentore, also die drittwenigsten der Liga, kassiert – und trotzdem seid Ihr „nur“ Dritter. Wie erklärst Du Dir das?
„Ganz einfach. Der Schiedsrichter ist schuld. Ganz klar. Das war alles die Schuld vom Schiedsrichter! Wir können so gar nicht gewinnen! Mit so einem Typen. Wie soll man da gewinnen!? Da können wir so viele Tore schießen, wie wir wollen. Wenn diese Pfeifen uns so verpfeifen! Sarkasmus aus. Wenn alle da sind, sind wir bärenstark. Allerdings ist unser Kader dünn besetzt. Die meisten bei uns haben andere Prioritäten im Leben und das ist auch gut so. Wir sind anfälliger für Verletzungen und müssen jedes Spiel eine neue Aufstellung erfinden. Das hält jung und wir haben unseren Spaß daran. Außerdem sind ja zuletzt einige Spiele ausgefallen. Wenn wir unser Nachholspiel gewinnen und Beber-Rohrsen beide gewinnen sollte, sind wir auf Platz zwei. Und das wäre mein Ziel für die Saison. In der Hinrunde haben wir also fast unseren Soll erfüllt. Ich bin gespannt auf die Rückrunde.“

Abschließend: Was war Dein bisheriges Saisonhighlight?
„Ich glaube, das war unser Spiel gegen Halvestorf. Es waren drei wirklich tolle Schiedsrichter angesetzt, die das Spiel zu jedem Zeitpunkt voll unter Kontrolle hatten. Es war ein sehr hart umkämpftes Spiel und wir haben bis zum letzten Moment alles gegeben. Doch an diesem Tag war Halvestorf einfach die bessere Mannschaft. Sie haben verdient gewonnen und wir haben ihnen nach dem Spiel zum Sieg gratuliert. Es war ein Spiel, wie ich mir Fußball wünsche. Alle geben ihr Bestes, es wird um jeden Ball gekämpft. Wenn dabei ein Foul passiert, dann entschuldigt man sich danach und es geht weiter. Dieses Spiel wurde von den besseren Fußballern gewonnen. Nicht von besseren Schlägern oder unfairen Spielern. Nach dem Spiel bin ich mit einem Mannschaftskameraden nach Hause gefahren und wir waren beide euphorisiert von diesem tollen Spiel. Wir hatten Spaß gehabt. Haben uns verausgabt und anschließend sind wir noch etwas zusammen essen gefahren. Das sind Momente, die mir Hoffnung machen, das wir am Ende doch nur spielen wollen.“
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Autor des Artikels

Jannik Schröder
Jannik Schröder
Jannik stieg nach seinem Praktikum vor einigen Jahren neben dem Studium als Freier Mitarbeiter bei AWesA ins Boot – und ist nach seinem Master-Abschluss in Germanistik und Geschichte seit Oktober 2015 Chefredakteur.
Telefon: 0176 - 6217 6014
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