28.10.2022 14:12

Spiel meines Leben


Von Gullit bis Nordkorea: Die DDR-Fußballreise des Jochen Illert

„Wenn du als 18-jähriger in Russland von 30.000 Menschen ausgepfiffen und mit Schneebällen beworfen wirst, ist das ein Gefühl, das du immer wieder haben willst“
DDR Juniorenauswahl 1980 Jochen Illert
Die DDR-Juniorenauswahl mit Jochen Illert (unten rechts), aufgenommen 1980. Quelle: www.wikipedia.de (Namensnennung: Bundesarchiv, Bild 183-W0503-028 / Kluge, Wolfgang / CC-BY-SA 3.0).

Vielen im Kreis wird seine markante Stimme bekannt vorkommen, doch wahrscheinlich ist nur wenigen das ganze Ausmaß seiner Geschichte bekannt. Denn hinter dem Gesicht des Kreisklassen-Trainers Jochen Illert verbirgt sich eine Biografie, die spannender kaum sein könnte. Als aufsteigender Stern am Fußball-Nachthimmel der DDR spielt sich das Multi-Talent bereits früh in das Herzen Berlins, zahlreiche Türen öffnen sich für ihn. Doch dann kommt vieles anders als geplant. Die Wende kristallisiert sich dabei nur als eine von mehreren Hürden heraus.

„Habe alles darangesetzt, um meinen Wunsch zu erfüllen“

Jochen Illert SG Klein Berkel_Koenigsfoerde II
Immer voll im Fokus: Jochen Illert beim Spiel seiner SG Klein Berkel.

Die Fußballreise des jungen Illert beginnt im Alter von sechs Jahren im Osten von Berlin. Inmitten der Zweiteilung der heutigen Bundeshauptstadt findet der DDR-Jungspund seine Liebe zum Fußball – und diese hat beim späteren Berliner Aushängeschild BFC Dynamo ihren Ursprung. Der Berliner Club feiert erst kurz zuvor seine neu gewonnene Eigenständigkeit, nachdem landesweit die Fußballsektionen von den Sportvereinen losgelöst werden. „Meine Mutter hat mich mit sechs Jahren zum Fußball gebracht und dann bin ich einfach dabeigeblieben“, schildert der heute 61-jährige im Gespräch seine Anfänge mit dem runden Leder. Und seine Contenance macht sich bereits früh bezahlt. Schnell nehmen die Verantwortlichen im Verein sein Potenzial wahr, fördern ihn. Auch seine intrinsische Motivation, alles für die eigene Karriere zu geben, wächst bereits in frühen Jahren heran. Aus heutiger Sicht gibt es für den einst technisch versierten Mittelfeldspieler ein ganz konkretes Ereignis, bei dem sich ihm der Wunsch, selbst einmal als Fußballprofi auf dem Platz zu stehen, förmlich eingebrannt hat. „Mit zehn Jahren hat unser Verein, der BFC, ein Spiel gegen den FC Liverpool bestritten. Ich hatte die Ehre, dabei als Balljunge fungieren zu dürfen. Diese Liverpooler Truppe live zu erleben, war ein Kindheitserlebnis, das mich bis heute geprägt hat. Seit diesem Zeitpunkt bin ich eingeschweißter LFC-Fan. Dieser Moment war auch ausschlaggebend, dass ich Fußballer geworden bin. Fortan habe ich alles darangesetzt, um meinen Wunsch zu erfüllen“, schwelgt der Berliner noch heute gerne in Erinnerungen.

Training bis zum Umfallen

Der Weg nach ganz oben erweist sich jedoch als ein steiniger. Die Trainingsmethoden in der DDR sind hart. Sehr hart – um es vorsichtig auszudrücken. Fünfmal die Woche Training auf dem Platz, dazu mindestens ein Spiel am Wochenende, viel Zeit für das klassische Kindsein bleibt nicht. Das ändert sich auch nicht mit Illerts Wechsel auf die Kinder- und Jugendsportschule im Alter von 14 Jahren. Freunde findet er nur im Rahmen seiner reinen Fußballklasse, Zeit für außersportliche Aktivitäten bleibt kaum. „Entweder hieß es Schule, Sport, Schule, Sport oder aber Sport, Schule, Sport, Schule. Du bist morgens um halb sieben aus dem Haus und warst abends um acht wieder da“, so Illert. Auch die Inhalte der Trainingsstunden sind für Laien unvorstellbar: nachdem in den ersten Jahren der Fokus vor allem auf der technischen Finesse mit Umgang mit dem Ball liegt, stehen später insbesondere Athletik und Ausdauer auf dem Programm. „Ich kann mich noch daran erinnern, dass wir auch schonmal 17 Kraftzirkel im Training hatten. Später einmal mussten wir auch mal 20 Kilometerläufe in Folge und auf Zeit machen. Das war völlig übertrieben. Ich bin abends nach Hause gekommen, meine komplette Muskulatur war überlastet und ich bin mit 40 Grad Fieber ins Bett gefallen. Natürlich hat man bei dieser Quälerei schon einmal abgekotzt. Aber ich hatte immer Spaß am Fußball und ein Ziel vor Augen“, liefert das einstige Talent einen Einblick in seinen jahrelangen Alltag.

Von Angesicht zu Angesicht mit Gullit und Rijkaard

                             
Seine Knieverletzung hatte ein jähes Karriereende zur Folge: Jochen Illert.

So bleibt Illert buchstäblich am Ball – und sein Durchhaltevermögen zahlt sich aus. Bereits im jugendlichen Alter arbeitet er sich in die Berliner Auswahlmannschaft vor und wird überdies auch alsbald in die Juniorenauswahl der DDR berufen, für die er im Laufe seiner Karriere 19 Länderspiele bestreitet. Seine begnadeten Qualitäten am Ball und seine technische Einzigartigkeit bringen ihm schnell den Spitznamen „Tango“ ein, immerhin bittet er seine Gegner auf dem Feld regelmäßig zu einem Tänzchen. Wie selbstverständlich steht „Tango“ Illert also auch im Kader der DDR bei der Junioren-Europameisterschaft 1980 im eigenen Land, vergleichbar mit der heutigen U18-EM. In Gruppe B trifft er mit Frankreich und besonders den Niederlanden auf zwei florierende Fußball-Nationen. Zum Auftakt steht mit Bulgarien allerdings der spätere Tabellenletzte auf dem Programm – und ausgerechnet dieser triumphiert nach Ablauf der 90 Minuten knapp mit 1:0. Ein denkbar schlechter Start ins Turnier für die DDR-Auswahl, immerhin zieht nur der Erste jeder Gruppe in die K.O.-Runde ein. Doch noch ist nichts verloren und spätestens nach dem 2:0-Erfolg gegen Frankreich lebt die kleine Hoffnung auf das Halbfinale. Dafür muss aber ein deutlicher Erfolg gegen Tabellenführer Niederlande her, der die ersten beiden Begegnungen souverän für sich entschieden hat. Am 20. Mai 1980 betritt Illert also das Feld, vollkommen fokussiert auf das dritte und alles entscheidende Gruppenspiel. Ihm gegenüber: die goldene Generation der „Oranje“, im Kader die heutigen Legenden Frank Rijkaard und Ruud Gullit. Letzterer war bereits zu diesem Zeitpunkt als phänomenaler „Box-to-Box“-Spieler bekannt. An diesem Abend stößt die niederländische Fußballlegende bei der DDR-Auswahl allerdings auf Granit, nach 70. Minuten folgt die Auswechslung. Trotzdem gelingt der Elftal der Einzug in die nächste Runde, die Partie endet mit 0:0, wodurch Illert & Co. nur der zweite Platz und damit das Ausscheiden auf dem Turnier übrigbleibt. Von Enttäuschung ist dennoch keine Spur zu erkennen: „Klar sind wir ausgeschieden, aber die alleinige Teilnahme war das Coole. Gegen Frank Rijkard und Ruud Gullit zu spielen, andere internationale Mannschaften zu sehen, das ist etwas Einzigartiges. Gullit war damals schon ein sensationeller Fußballer und zu sehen, wie er gegen dich ausgewechselt wird, ist schon ein großartiges Gefühl.“

Knieverletzung beendet Höhenflug

Bald darauf wird die bis dahin so bilderbuchhaft verlaufende Karriere allerdings den ersten haarsträubenden Bruch erleiden. Zuvor jedoch erntet der Berliner Ballkünstler weiterhin die Lorbeeren seiner jahrelangen Arbeit. Kurz nach dem Ausscheiden aus der EM erhält Illert die erste Einladung für die DDR-Oberliga-Mannschaft des BFC. Dynamo hat sich zu diesem Zeitpunkt bereits zum Überflieger der höchsten ostdeutschen Spielklasse entwickelt. Nach dem Meistertitel im Jahr 1979 ist man nun auf dem besten Weg, den zweiten Titel in Folge einzufahren. Zur Heranführung an die Herrenmannschaft soll Illert noch zwei Jahre in der Nachwuchs-Oberliga absolvieren, vergleichbar mit der heutigen U18-Bundesliga. Im Zuge der Saisonvorbereitung absolvieren die Berliner ein Pflichtfreundschaftsspiel, bei dem auch Mittelfeldspieler Illert zum Zug kommt. Im Rahmen eines Zweikampfes steigt ihm sein Gegenspieler auf den Fuß. „Als ich am nächsten Tag zum Training gekommen bin, ist mir aufgefallen, dass ich nicht mehr laufen kann. Unsere medizinische Abteilung, die für damalige Verhältnisse schon gut ausgebildet war, hat mich sofort zum Arzt geschickt“, erzählt der heutige Hamelner. Die Diagnose steht schnell fest, der Außenmeniskus ist gerissen. Noch am nächsten Tag unterzieht sich Illert der notwendigen Operation, anschließend verordnet ihm der Arzt eine Spielpause von mindestens einem halben Jahr. Doch bereits nach nur drei Monaten steht er wieder auf dem Platz. Ein Fehler, wie er heute selbst weiß: „Das war der Knackpunkt meiner Karriere. Die Muskulatur war dieser Belastung noch nicht wieder gewachsen. Irgendwann ist mir der Oberschenkel einfach über den Unterschenkel gerutscht. Durch den gravierenden Knorpelschaden war meine Laufbahn dann plötzlich zu Ende.“

„Seite an Seite mit Günther Netzer in die Kabinen gegangen“

Aufstellungstafel Jochen Illert HSV
Die Aufstellungstafel beim Cup der Landesmeister gegen den HSV. Foto: privat.

Die Auswirkungen seiner verfrühten Rückkehr bekommt das einst so groß gehandelte Talent allerdings erst im Laufe seiner nächsten, nur noch wenig verbleibenden Fußballjahre zu spüren. In der Saison 1982/83 debütiert er zunächst noch in der Meistermannschaft des BFC. An seiner Seite spielen unter anderem spätere Dynamo-Legenden wie Frank Rohde, Christian Backs und Bodo Rudwaleit, die den Berlinern zu einer Siegesserie von zehn(!) Meistertiteln in Folge verhelfen werden. Das nächste, große Highlight seiner Fußballkarriere erlebt Illert allerdings in einem ganz anderen Wettbewerb. In der 1. Runde des Europapokals der Landesmeister (heute Champions League) bekommt es Dynamo im September 1982 mit einem westdeutschen Nord-Club zu tun, dem Hamburger Sportverein. Und dieser läuft mit einem regelrechten Starensemble in der Berliner Arena in Hohenschönhausen auf. Neben Ulrich „Uli“ Stein im Tor der Hanseaten ist auch der junge Felix Magath in der Startelf zu finden. Nicht zu vergessen ist auch Fußballikone Günther Netzer, der die folgenden sportlichen Jahre der Norddeutschen als Manager maßgeblich prägen wird. Neben den bekannten Gesichtern auf Seiten der Berliner steht auch „Tango“ Illert beim 1:1-Unentschieden vor heimischer Kulisse im Kader. Seine Glücksgefühle über dieses Erlebnis bestehen noch heutzutage: „Das war schon ein waschechtes Highlight, seinen eigenen Namen neben solchen Spielern auf der Kadertafel zu lesen. Ich bin dann Seite an Seite mit Günther Netzer in die Kabinen gegangen. Da war ich natürlich stolz wie Bolle!“

Karriereende mit 24 Jahren

Mit dem Ende der Partie beginnt aber auch die glorreiche Zeit des Technikers „Tango“ Illert zu kippen. Er selbst ist nicht Teil der SED, zudem auch nicht verheiratet. Möglicherweise sind auch das die Gründe dafür, dass er fortan nicht mehr im Reisekader des BFC zu finden ist, bei Spielen im Ausland wird er nicht mehr berücksichtigt. Folglich ist für ihn auch beim Rückspiel gegen den HSV kein Platz mehr im Team. „Das war natürlich ein tiefer Einschlag“, gibt er heute zu. Das „jähe Ende“ seines Fußballzenits, wie es der heutige Klein Berkel-Trainer selbst bezeichnet, nimmt in den kommenden Jahren seinen Lauf. Die Knieverletzung ist letztlich der Grund dafür, dass Illert nach nur wenigen Einsätzen in der ersten Mannschaft von Dynamo in die zweite Liga wechselt. In dieser Zeit macht er auch eine sportliche Entwicklung durch. Der einstige Techniker vor dem Herrn übernimmt fortan die Rolle des Vorstoppers, macht den Platz frei für die nachrückenden Talente. Dies ändert sich auch nach seinem Wechsel zu Dynamo Fürstenwalde zur Saison 1985/86 nicht, die seine letzte aktive im gehobenen Fußballniveau sein wird. Bei seinem neuen Klub kommt er erneut nicht oft zum Zug, das Knie ist und bleibt das Problem. Nach seinem nächsten Wechsel, diesmal in die dritte Liga, hängt er mit nur 24 Jahren seine Fußballschuhe endgültig an den Nagel.

Wer glaubt, dass die fußballerische Reise Illerts mit seinem Schicksalsschlag vorbei sein sollte, hat allerdings weit gefehlt. Im Alter von nur 27 Jahren übernimmt er als einer der jüngsten Herrentrainer die erste Mannschaft von BSG Außenhandel Berlin. Zudem arbeitet er als Scout, sichtet vielversprechende Talente und führt sie selbst an den Herrenbereich heran. Außerdem leitet er das sogenannte Trainingszentrum, das dem heutigen Stützpunkt im Jugendfußball gleicht. Seine letzte Aufgabe vor der Wende ist die des Sportinstruktors im ostdeutschen Raum. Mit der Öffnung der Grenzen zwischen der BRD und der DDR gibt es für den Vollblutsportliebhaber jedoch keine Verwendung mehr in Berlin, fortan tourt er in den kommenden Jahren vor allem in den überwiegend östlichen Staaten Europas umher.

Standing Ovations in Bulgarien, Schneebälle in Russland und Besuch in Nordkorea

Jochen Illert hilft SG Klein Berkel_Koenigsfoerde II
Zeigt sich sogar dem Gegner über hilfsbereit: Jochen Illert.

Heute hat sich der gebürtige Berliner – auch bedingt durch einen weiteren Arbeitsunfall – in Hameln niedergelassen. Vom Fußball abgewendet hat er sich dabei aber nicht. Und er bereut auch keine seiner Entscheidungen: „Ich kenne nur das Fußballerleben und stand von Anfang an mit allem dahinter. Das ist wie eine Sucht. Wenn du in Bulgarien mit der Oberliga-Mannschaft Standing Ovations bekommst, ist das unvergleichlich. Das pusht einen ungemein. Und wenn du als 18-jähriger in Russland von 30.000 Menschen ausgepfiffen und mit Schneebällen beworfen wirst, ist das ein Gefühl, das du immer wieder haben willst. Mit Sicherheit wird auch nicht jeder die Chance bekommen, bei einem Fußballturnier in Nordkorea dabei zu sein. Das sind alles Erfahrungen, für die sich all die Quälereien und das Nicht-Zuhause-Sein gelohnt haben. Von daher würde ich mein Leben immer wieder so führen wollen. Alles, was passiert ist, hat einen Sinn gehabt. Die Verletzungen und Unfälle haben mich hierhergebracht.“ Damit spielt Illert auch auf seinen Sohn an, der in Klein Berkel mit dem Fußballspielen angefangen hat. Als in der D-Jugend der Trainer wegbricht und eine Lücke hinterlässt, wollen zuerst einige Väter die Rolle aus der Not heraus übernehmen. „Dann habe ich mich bereit erklärt, das Ganze für ein Jahr zu übernehmen“, so der Berliner. Dieses ursprünglich eine Jahr liegt bereits sieben Jahre zurück – an Aufhören nicht mehr zu denken. Seinen Jahrgang begleitet er bis in die Herrensparte, übernimmt nebenbei zudem die Rolle des Jugendleiters beim TSV. Mittlerweile ist „Papa Illert“ nach sieben Jahren an der Seitenlinie nicht mehr wegzudenken, derzeit kämpft er mit seinen Jungs um den Klassenerhalt in der 2. Kreisklasse. „Es gibt überall begabte Kicker. Der schwerwiegendste Unterschied im Training zwischen damals und heute liegt darin, dass die Einheiten früher wesentlich länger waren, heute nutzt man lieber kurze und intensive Intervalle. Außerdem lag der Fokus eher auf dem Umgang mit dem Ball als auf komplexen Abläufen und Übungen. Bei uns hat es damals dagegen mit dem Balljonglieren angefangen. Wenn du mit dem Ball umgehen kannst, hast du den Gegner im Sack.“ Wenn er da mal nicht aus eigenen Erfahrungen spricht…
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Autor des Artikels

Robin Besser
Robin Besser
Robin kam am 01. August 2022 als fester Neuzugang ins Team AWesA, war zuvor als freier Mitarbeiter aktiv. Sein Herz schlägt für den Lokalsport und die Vereine im Weserbergland.
Telefon: 05155 / 2819-320
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