02.06.2020 09:39

Meldung


Auswärts – Trainer Jürgen Hasse vermisst Fußball & seine Mannschaft

Hasse mit einer Hommage an den Fußball, an Auswärtsspiele – und sein Team / „Sie vertrauen mir , ich vertraue ihnen – bedingungslos“

Lebt den Fußball wie kaum ein anderer: Sabbenhausens Trainer Jürgen Hasse.
Von Jürgen Hasse, Trainer der Frauenmannschaft des TSV Sabbenhausen

Nun ist es also amtlich, die Saison 2019/20 ist abgebrochen worden. Obwohl die Vorbereitung auf die Rückrunde sich bei uns mindestens das Attribut „problembehaftet“ verdient hat, fehlt mir der Fußball – insbesondere diese spezielle Mannschaft. Am meisten vermisse ich die Auswärtsspiele. Warum weiß ich nicht, vielleicht ist es intuitiv die ultimative Herausforderung, in der Fremde zu bestehen, die den Reiz ausmacht. Wir, der TSV Sabbenhausen, beheimatet im östlichsten Westfalen, fahren in der Bezirksliga-Staffel 1 oft mehr als 100 Kilometer, anderthalb Stunden lang zu unseren Liga-Rivalen. Außer ein paar oberflächliche Begrüßungsnettigkeiten schenken uns die Gegner dort rein gar nichts, verfügen über ungeliebte Kunstrasenplätze und man trifft zu allem Überfluss im Amateursport immer noch die letzten Überlebenden der Gattung Heimschiedsrichter an, die dir das Leben in der Fremde schwer machen können.

Ein Heimspiel gegen den Tabellenachten der Liga zu bestreiten, ist, damit verglichen, also eine nette Kindergeburtstagsveranstaltung, dazu sollte eine Bezirksligakickerin auch nachts um drei Uhr in der Lage sein – zumal die Betteinstiegszeiten am Wochenende bei einigen ungefähr in dieses Zeitfenster passen.

Aber auswärts, da ist alles anders. Die Kabine dort versprüht den Charme eines muffigen Kellerraumes, der Plastikplatz liegt in der prallen Sonne oder wird im Winter von einer kalten Brise aus dem Osten hofiert. Auch die Aussicht auf eine Bratwurst nach dem Spiel schwindet bei der Anwesenheit von gerade einmal 27 Zuschauern und dem Anblick eines geschlossenen Verkaufsstandes.

Wenn du dir in diesen Moment die Frage stellst: „ Was mache ich hier eigentlich?“, dann hast du eigentlich schon verloren, nicht nur das Spiel, sondern viel mehr den noch wichtigeren Kampf gegen dich selbst. Auswärts, das ist die Bühne für Sieger. Da musst du etwas darstellen, unbeeindruckt sein von den widrigen äußeren Umständen, Leidensfähigkeit ist gefragt und vor allem musst du das Spiel und noch mehr deine Mannschaft lieben. Auswärts, das ist die Königsdisziplin im Fußball und auf wen dort Verlass ist, der wird auch im richtigen Leben oft das Siegerlied von „Queen“ im Konfettiregen hören können.

Aber immer wieder musst du dich da beweisen. „Dieser Weg ist steinig und hart…“, trällert der gute Naidoo locker im wohltemperierten Tonstudio. Er kann schön davon singen  wir gehen ihn jeden zweiten Sonntag in der Saison zusammen. Der TSV auswärts in Kutenhausen, Löhne ,Bielefeld…

TSV Sabbenhausen Frauen Fussball Bezirksliga AWesA
Die Frauen des TSV Sabbenhausen.
In der Regel steht der Trainer am Spieltag um 7 Uhr auf. Die ersten 45 Minuten des Tages werden bis ca. 16 Uhr die am leichtesten zu bewältigenden sein. Morgentoilette, Trainingsanzug anziehen, Frühstück und eine kleine Runde mit dem pensionierten Polizeihund Amy gehen. Danach gehe ich die bereits am Vortag angelegte Spielerliste des Gegners mit allen Spielereinsätzen und Torschützinnen durch, begleitet von der vagen Hoffnung, das bei denen mindesten zwei Stammspielerinnen oder aber die Toptorjägerin gegen uns fehlen wird. Das ist fast immer ein Trugschluss. Dieser Prozess dient zum Aufwärmen für die weitere Spielvorbereitung. Jetzt wird es ernst und ich mache mir Gedanken über unsere Spielauslegung und die nominelle Mannschaftsaufstellung. Jegliche Lockerheit geht mir dabei ab und ein tropfender Wasserhahn ist ab jetzt so erwünscht wie Jürgen Klinsmann in Berlin.

Der Wertschätzung der Mannschaft gegenüber und mein eigener Anspruch verlangen es, eine 15 bis 20-minütige Ansprache vorzubereiten, die fachlich für Amateurverhältnisse einigermaßen fundiert ist, nicht mit Wortfindungsstörungen durchsetzt ist und von der textlichen Gestaltung die Schlafphase der Spielerinnen, während der Anreise sowie beim Eintreffen in der Kabine, nicht unheilvoll verlängert. Zu diesem Zeitpinkt ist das Handy der größte Feind, ein Klingeln ist fast immer der Vorbote einer Hiobsbotschaft. Noch nie hat unverhofft eine brasilianische Ex-Nationalspielerin angerufen und mitgeteilt, das sie schon für das heutige Auswärtsspiel spielberechtigt sei. Die Gott sei dank nicht immer vorkommenden Anrufe haben eher folgend Inhalte:
„Trainer, geht nicht, ich habe 39 Grad Fieber.“
„Trainer, unserer Urlaubsflieger hat zwei Stunden Verspätung, wir schaffen es leider doch nicht zum Spiel.“
„Trainer, ich bin heute noch mal gelaufen, ich glaube es geht nicht, komme aber mit.“

Solche und ähnliche, seit über Jahrzenten gehandhabte, kreisligatypische Absagen sind das schwere Los von Trainern in den unteren Klassen. Irgendwann ist es dann 10.30 Uhr, ich habe meine Vorarbeiten grob abgeschlossen und dabei sogar noch auf der Spieltafel simpelste, dem kleinen Fußball-Einmaleins gebührende, mögliche Spielszenen einfließen lassen können. Was nun folgt, ist ein kleines Ritual, es ist dem Aberglauben aller Fußballer geschuldet. Noch einmal gehe ich mit dem kleinen Polizeihund bis zum Ortsschild. Dabei habe ich meine drei bis vier vorbereiteten DIN-A4 Blätter einprägend lesend in der Hand. „Was für ein bekloppter Typ“, wird der eine oder andere entgegenkommende Autofahrer dabei denken. Vielleicht haben sie recht.

Auf den letzten Drücker, aber pünktlich um zwei Minuten vor 11 Uhr, bin ich am Treffpunkt. Auch wenn ich Bereitschaft habe. Beruf ist wichtig, aber Fußball ist Berufung und wenn du gute Kollegen hast, deinerseits zu Zugeständnissen bereit bist, ist es möglich, beides unter einen Hut zu bringen – Auswärtsspiel und Beruf.

Ab dem Treffen steigt die Anspannung permanent. Ich versuche locker zu wirken, aber ich wäre wenig authentisch, wenn die Mannschaft nicht merken würde, dass es genau umgekehrt ist. Es erfolgt ein erster Check: „Sind alle da? Wie lange war Rike gestern unterwegs und hoffentlich war Faye nicht auch mit. Hat Gina Bock, was macht Nickis Leiste, denkt Betreuer Werner an die Trikots und warum zum Teufel ist Sina schon wieder mindestens sechs Minuten zu spät?“


Sabbenhausens Spielführererin Sina Müller warnt auf dem Platz vor Gegenspielerinnen – und im Auto vor Blitzern.
Meistens gegen zehn Minuten nach 11 Uhr sind alle vier Autos besetzt, mit mir fahren fast immer Vanessa, Sina und Gina, manchmal auch Studienrätin Tina, die das Gesprächslevel ins Akademische hievt. Mannschaftsführerin Sina kommt bei diesen Fahrten eine ganz wichtige Rolle zu. Sie warnt seit Jahren verlässlich auf den mit Blitzern gespickten Strecken. Ohne Sina wäre ich nach Punkten sicher bundesligareif, aber nur in Flensburg und dafür ohne Fahrlizenz. Früher, als wir noch in der Staffel 2 spielten, erreichten wir nach ca. 40 Kilometern Fahrt den Kreisel an der Benteler Arena in Paderborn, das Navi und auch die mitdenkenden Spielerinnen mahnten lautstark die Auffahrt auf die A44 an, ich verpasste sie dennoch regelmäßig, weil mein kopfeigenes GPS sich längst in der 63. Minute des bevorstehenden Auswärtsspieles befand.

Endlich am Spielort angekommen, mindert sich der selbstauferlegte Stress nur unwesentlich. Der Wunsch, zehn Minuten ganz allein für sich zu sein, ist utopisch – keine Chance. Da ist die Sorge, dass noch zwei Autos fehlen, zu groß, die Abwehr-Kombo „SinaVaNetti“ (Sina, Vanessa und Janette) greift noch ganz gemütlich zur Zigarette vor dem Spiel und man selber geht aus Höflichkeit in ein belangloses Gespräch mit dem Coach des Gegners, obwohl die Gedanken schon ganz woanders weilen. Diese 10 bis 15 Minuten, die Zeit, während sich das Team mit dem Trikot bewaffnet, ist schwer zu ertragen. Es ist ein Warten ohne Ruhe. Von diesem Leiden erlöst mich immer Kathi Reker. Sie ist die Spielerin des Teams, die mich endlich in die Kabine zur Mannschaftsbesprechung bittet. Vielleicht ist dies der schönste Moment des ganzen Tages. Wahrscheinlich genieße ich ihn ganz unbewusst. Ich bin immer noch angespannt, aber auch endlich locker, eigentlich ein Gegensatz, aber wenn ich dann in die Gesichter der Spielerinnen schaue, sehe ich das gleiche Bild. Es sind Momente der Kraft und der Zuversicht. Die Teamsitzung hat das Ziel, das Match erfolgreich zu gestalten, sie ist in der Art und Weise, wie wir sie führen, aber eher ein Gespräch auf Augenhöhe. Sie vertrauen mir , ich vertraue ihnen – bedingungslos. Jetzt ist der Trainer wirklich locker, er lässt es sogar zu, wenn Abwehrchefin Vanessa auf ihr Handy schielt, wissend, dass er sich die nächsten 90 Minuten absolut auf sie verlassen kann. Vertrauen ist der Anfang des Ganzen, wer weiß das besser als eine Mannschaft, die sich im Kern seit zehn Jahren kennt.

Doch schon wenn das Team sich warm macht, ist das erhabene Gefühl schon wieder auf der Flucht. Oft schaue ich dann auf mein Handy, in der ungeduldigen Erwartung einer Nachricht von unserer Torhüterin Charly. Sie arbeitet als Krankenschwester im Herzzentrum Bad Oeynhausen und versucht für ihre Leidenschaft Fußball alles möglich zu machen. Für die Mannschaft und mich stellt sich immer die bange Frage, wenn sie Dienst hat, ob für den leitenden Professor ihr Beisein bei der Operation am offenen Herzen noch wichtiger ist als unser Auswärtsspiel. Meistens hat er ein Herz für sie und uns, sodass Charly es gerade zum Anpfiff schafft. Ihr Aufwärmprogramm reduziert sich an diesen Tagen jedoch auf den Sprint vom Parkplatz bis in die Kabine.

Um 13 Uhr geht es los und in den letzten 10 Jahren hat diese Mannschaft auswärts wohl alle möglichen Wendungen im Sport erlebt, meistens erlitten. Dennoch ist ein Gewöhnungseffekt für all die erlebten Aufregungen nicht messbar. Auswärts ist immer Theater – ob Drama oder Show, das weißt du vorher nie.

Eigentlich gibt es zwei grundsätzliche Basis-Szenarien für denkwürdige Spielnachmittage auswärts. Fall 1 resultiert aus dem klassischen 0:1-Rückstand binnen der ersten fünf Minuten. Fall 2 gründet sich in der Tatsache, dass dein Team gegen einen starken Gegner überragend ins Spiel kommt, spielbestimmend ist, aber fahrlässig zwei Hochprozentige liegen lässt oder der Pfosten zunehmend der beste Freund des gegnerischen Torwartes wird. Dies sind die Spiele, in denen jeder merkt, dass der Traum einer Sensation wahr werden kann, jede Sekunde aber auch ein Tanz auf der Rasierklinge ist.

Anja Heptner TSV Sabbenhausen Damen Fussball Bezirksliga AWesA
Geht über ihre Grenzen hinaus: Kämpferin Anja Heptner.
Nur in diesen denkwürdigen Kämpfen, auswärts, wo die einzelnen Spielerinnen sich absolut aufeinander verlassen müssen, entwickeln sich wahre Mannschaften. Frei nach Olli Kahn ist es der Druck, der sie zusammenschweißt und im besten Fall zu Dorf-Legenden lassen wird. Unvergessen bleibt beispielsweise eine Anja Heptner, die sich in Schweinsteiger-Manier in Spexard schwerverletzt 90 Minuten durchkämpft. Als Trainer empfindest du manchmal Bewunderung für deine Spieler*innen und das ist fast immer in Auswärtsspielen der Fall.

Auswärts, da ist alles intensiv: der 1:0-Erfolg nach schwerer Abwehrschlacht in Geseke, die blamable 3:4-Niederlage beim Tabellenletzten Schmerleke, der unberechtigte Gegentreffer in der 93. Minute beim Spitzenreiter in Höxter zum Ausgleich oder der glanzvolle 2:1-Sieg auf dem Weg zur Herbstmeisterschaft in Spexard. Auswärts ist öfter Hölle als Himmel  Aber es macht etwas mit dir, es prägt dich. Schicke feinfüßige Ballakrobatik hat dort Urlaub, diese Spiele fragen deinen Willen ab und wenn du sie gewinnst, dann oft denkbar knapp. Körperlich funktionierst du unmittelbar nach dem Abpfiff allenfalls im Standby-Betrieb, die Muskeln gehorchen nur noch Minimalanforderungen, es ist der totale Erschöpfungszustand. Aber das Gefühl, wenn das angestaute Adrenalin in deinen Blutbahnen sich in glücklich machendes Endorphin wandelt, ist unbezahlbar und ein absolutes Privileg für Sportler*innen. Als Trainer erlebe ich es in der Form nicht mehr, aber nach knappen Auswärtssiegen schafft das Team es, mich für einen Augenblick auf eine Zeitreise in die 90er Jahre zurück zu schicken.

Auch an diesen Tagen ist die Rückreise in der Regel 100 Kilometer lang – doch mit der Freude und Euphorie ist da auch die gelebte Narrenfreiheit für die Mannschaft. Alkohol im Auto (selbstverständlich nur für die Mitfahrerinnen), volles Musikprogramm, Boxenstopp bei McDonalds – alles erlaubt und alles gemacht. Wenn dann der Redakteur von der Zeitung anruft und dann das Gespräch mit den Worten: „Mensch Jürgen, Glückwunsch, 1:0 beim Tabellenzweiten gewonnen, erzähl doch mal…“, beginnt, dann war es der perfekte Auswärtssonntag.

Ich vermisse den Fußball allgemein, den Fußball und die Geschichten mit meiner Mannschaft aber noch mehr. Ich hoffe, dass es solche Momente für viele von uns noch weiterhin gibt.
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